„Irrsinnig“ oder innovativ? Streit um Medikamentenversorgung in Dortmunder Seniorenheimen

Streit um Medikamentenversorgung in städtischen Seniorenheimen
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Als Uwe-Jürgen Hesse aus Dortmund-Kurl Ende September ein Brief des Seniorenwohnsitzes Westholz ins Haus flatterte, schwoll ihm der Kamm. Eine Angehörige lebt in dem städtischen Seniorenheim. In dem Schreiben kündigte die Heimleitung an, dass ab 1. Januar die Medikamentenversorgung für die Heimbewohner verblistert, sprich transparent in Kunststoff verpackt wird und die Arzneien statt wie bisher von der lokalen Apotheke zentral von einer Vertragsapotheke aus Werl kommen.

Uwe-Jürgen Hesse ist ein streitbarer Mann, der solche Schreiben nicht einfach so hinnimmt. Er intervenierte bei der Heimleitung und der Heimaufsicht; denn er sieht unter anderem die freie Apothekenwahl der Heimbewohner und den Datenschutz gefährdet. Zudem sorgt er sich um die Gewerbesteuer, die jetzt durch ein städtisches Unternehmen in eine andere Stadt fließt.

Neue Verpackung

„Irrsinnig“, sagt Hesse und sieht sich zumindest in Teilen von Dortmunder Apotheken bestätigt. Denn die verlieren ihre Aufträge an die Apotheke in Werl.

Dass die Städtische Seniorenheim Dortmund gGmbH (SHDO) die Medikamentenversorgung nach auswärts vergibt, liegt an einer neuartigen Blisterverpackung mit dem Namen Medinoxx.

Beim „Blistern“ portioniert und verpackt die Apotheke die verschriebene Medikation für jeden einzelnen Bewohner in einer Sichtverpackung und liefert sie dann in die Einrichtungen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Blisterverpackungen können mit Medinoxx erstmalig nicht nur feste, sondern auch flüssige Medikamente verblistert werden. Damit ist erstmals eine Verblisterung von über 90 Prozent aller Medikamente möglich.

Zeit und Personal gespart

Das System spare Zeit und Personal und verbessere die Kontrolle, argumentiert SHDO-Geschäftsführerin Elisabeth Disteldorf: „Bislang habe wir die Medikamente selbst gestellt. Durch Medinoxx gewinnt eine Fachkraft pro Wohnbereich mit 30 bis 40 Betten eine bis anderthalb Stunden Zeit, die den Heimbewohnern zugute kommt.“

Die ersten drei Seniorenheime – Tiefenbach in Eichlinghofen, Luisenglück in Hombruch und das Wohn- und Begegnungszentrum Am Zehnthof in Körne –haben bereits umgestellt. Uwe-Jürgen Hesse sei der einzige, der sich bislang über die Umstellung beschwert habe, sagt Disteldorf.

Elisabeth Disteldorf, Geschäftsführerin der Städtischen Seniorenheim gGmbH.
Elisabeth Disteldorf, Geschäftsführerin der Städtischen Seniorenheim gGmbH, verteidigt ihre „rein unternehmerische Entscheidung“. © SHDO

Was die Heimbewohner und ihre Angehörigen betrifft, mag das stimmen. Die lokalen Apotheker allerdings, die bislang die acht SHDO-Seniorenheime beliefert haben, haben auch die Faust in der Tasche.

Dass die SHDO ihre Medikamentenversorgung aufgrund der Personalknappheit umstellen wolle, sei zwar völlig verständlich, sagt Dr. Christina Lempka von der Paracelsius-Apotheke in Scharnhorst, „doch wir finden nicht gut, wie das gelaufen ist. Und wir befürchten, dass die Versorgung nicht besser wird. Das Kind muss erst in den Brunnen fallen.“

Keine Entfernung

Seit 20 Jahren beliefert sie die Heime in Scharnhorst, selbst wenn der Anruf zum Beispiel wegen eines bestimmten Verbandsmaterials erst freitagsmittags kommt. „Wir erledigen auch viele Dinge, die wir nicht bezahlt bekommen“, sagt Lempka. Und nun schwäche die Stadt durch ein Tochterunternehmen die Versorgung vor Ort.

Die neue Vertragsapotheke habe Filialen in Hagen und Witten, kontert Disteldorf. Das sei keine Entfernung und die Versorgung somit sichergestellt.

Pflegefachkraft Martin Tokarz und Anja Sprenger-Lux, Qualitätsbeauftragte und SHDO-Prokuristin für den Bereich Pflege, mit den Medinoxx-Trays.
Pflegefachkraft Martin Tokarz und Anja Sprenger-Lux, Qualitätsbeauftragte und SHDO-Prokuristin für den Bereich Pflege, mit den Medinoxx-Trays, in denen die Medikamente geliefert werden. © Kolle

Medinoxx sei ein gutes System räumt Dr. Lempka ein, „aber wahnsinnig teuer und wahnsinnig personalintensiv“. Was die Heime an Zeit sparen, müssen die Apotheken aufbringen. Sie müssten für das Zusammenstellen der Medikamente einen Reinraum schaffen und wegen des Vier-Augen-Prinzips auch einen Apotheker abstellen. Dazu komme die Investition in notwendige Geräte, so Lempka.

Mit Betriebsrat abgestimmt

Auf die gängigen Schlauchblister, die 90 Prozent der Pflegeheime wollten und die man in Blisterzentren herstellen lasse, habe sich Disteldorf partout nicht einlassen wollen, kritisiert die Apothekerin.

Das bestätigt die SHDO-Geschäftsführerin: „In Schlauchblistern sehen wir nicht die Zukunft.“ Medinoxx sei nach Testläufen der Wunsch der Pflegedienstleitung gewesen und mit dem Betriebsrat abgestimmt. „Das ist eine rein unternehmerische Entscheidung. Die können wir nicht von den Apotheken abhängig machen.“ Sie hätte sich gern vorgestellt, dass die lokalen Apotheken sich zusammentun, um die städtischen Pflegeheime mit dem Medinoxx-System zu beliefern. Doch die hätten nicht gewollt.

Nicht gekonnt, sagt Dr. Lempka. Das, was SHDO an Bezahlung angeboten habe, wäre „ein ruinöses Geschäft geworden. Da haben alle gesagt, das geht nicht. Auch unserer Steuerberater haben abgewunken.“ Einzelnen Apotheken fehle dafür ohnehin das Personal, und eine gemeinsame Gesellschaft zu gründen, sei nicht praktikabel.

SPD-Fraktion eingeschaltet

Die Apotheker hätten auch die SPD-Fraktion eingeschaltet, berichtet Dr. Lempka. Aber ohne Erfolg. In das operative Geschäft könne man sich nicht einmischen, habe es geheißen.

Laut Heimrecht sei es grundsätzlich unproblematisch, wenn ein Heimträger die Vertragsapotheken wechselt, um günstigere Preise oder besseren Service zu erlangen, sagt die Dortmunder Heimaufsicht auf Anfrage. Heimbewohner müssten den „Blister“-Service aber nicht annehmen.

So machen es die anderen

Was passiere, wenn er sich im Namen seiner Angehörigen mit der zentralen Medikamentenversorgung nicht einverstanden erkläre, wollte Uwe-Jürgen Hesse wissen. In dem Fall müsse er sie selbst besorgen, sagt die SHDO-Chefin. Verabreicht würden sie aber, wie vorgeschrieben, vom Fachpersonal des Heims. Die freie Apothekenwahl sei also gesichert.

Wie machen es andere Träger? Die stationären Pflegeeinrichtungen der Diakonie, der Caritas und der Awo beziehen die Medikamente für ihre Bewohner von lokalen Apotheken, bei der Caritas zum Teil wöchentlich in Blisterverpackungen, allerdings nicht von Medinoxx.

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