Martin Kaiser, bis zum Renteneintritt am 1. Oktober Geschäftsführer der städtischen Seniorenheime, lässt die 18 Jahre an der Spitze des Unternehmens Revue passieren.

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Pflege in Dortmund: 80 Prozent der Heimbewohner leiden heute an Demenz

dzExperte im Ruhestand

Martin Kaiser war 18 Jahre lang oberster Seniorenheim-Manager der Stadt Dortmund. Seit 2003 hat sich vieles in der Pflege verändert. Manches aber bleibt unverzichtbar. Das hat auch Corona gezeigt.

Dortmund

, 05.10.2021, 14:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Der erste Morgen im Ruhestand: kein Checken der E-Mails um 7 Uhr als Start in den SHDO-Alltag. SHDO ist das Kürzel für Städtische Seniorenheime Dortmund gGmbH, und Martin Kaiser war bis zum 30. September der oberste Seniorenheim-Manager der Stadt.

Kaiser hat am ersten Morgen als Rentner nichts vermisst, zumal der Abschiedsabend ein langer war. Gedanklich ist er aber immer noch im Job. Wenn er von seiner Arbeit spricht, spricht er immer noch in der Gegenwart – und von „wir“.

Der 67-Jährige war 18 Jahre lang Geschäftsführer der SHDO, Herr über knapp 1000 Heimplätze in acht Pflegeheimen und mit über 1000 Mitarbeitern, davon rund 200 bei der angegliederten Service-Gesellschaft. Mit Blick auf Corona, sagt er, wäre es vielleicht gut gewesen, mit 65 in Rente zu gehen. Aber auf der anderen Seite . . .

Bauzäune vor die Heime gestellt

„Wir hatten vor der Pandemie die Kultur der offenen Häuser und mussten dann alle für Besucher und mehr als 200 Ehrenamtliche schließen“, sagt Kaiser. Keine Spiel- und Beschäftigungsangebote, keine Kochevents, keine Konzerte, keine Candlelight- oder Krimi-Dinner. „Wir haben Bauzäune vor die Häuser gestellt. Dieser Bruch konnte mit einem erfahrenen Team besser gestaltet werden.“

Abgesehen von Corona sind die städtischen Seniorenheime unter der Ägide von Kaiser von größeren Einschlägen verschont geblieben: kein Brand und kein Bombenalarm mit Evakuierung. Kaiser: „Von außen kommende Ereignisse sind nicht eingeschlagen. Was von drinnen kam, haben wir gelöst.“

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Dennoch hat sich in den 18 Jahren viel getan. „Wir haben das Unternehmen zum größten Träger der stationären Altenhilfe in Dortmund ausgebaut, dafür etwa 100 Millionen Euro für Neubau und Sanierung in die Gebäudestruktur gesteckt und die Häuser zeitgemäß aufgestellt“, sagt der Manager im Ruhestand, „wir haben heute fast nur noch Einzelzimmer.“

Häuser im Quartier verankert

Auch die Pflege selbst hat sich verändert, unter anderem durch neue Formate. „Wir haben bereits 2007 das Thema Servicewohnen erkannt“, sagt Kaiser. Mit Betreuung und integrierter Tagespflege, Wohnen in Wohnungsgemeinschaften, mit Tages-, Kurzzeit- und vollstationärer Pflege habe SHDO seine Heime im Quartier positioniert und verankert. 1500 Pflegebedürftige werden heute so versorgt.

Dass die Menschen immer älter werden, stellt die Pflege vor neue Herausforderungen. So sei der Umgang mit dementen Bewohnern viel beschäftigungsintensiver, sagt Kaiser. Als er den Job an der Spitze der städtischen Seniorenheime übernahm, waren 20 bis 30 Prozent der Bewohner demenziell verändert. „Heute sind es 80 Prozent.“

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Tiere haben Eingang in die Heime gefunden, Hunde und Katzen als eigens ausgebildete Besuchstiere. Bisweilen ziehen auch mitgebrachte Vierbeiner ein, sofern die Bewohner sie selbstständig versorgen können, ihre Zahl nicht überhandnimmt und sich niemand eingeschränkt fühlt.

Interkulturelle Pflege

„Wir haben sehr früh angefangen, interkulturell zu arbeiten“, zählt Kaiser weiter auf. „Wir haben heute integrative Heime“. Die SHDO beschäftige Mitarbeiter aus 13 verschiedenen Nationalitäten. „Das befähigt uns, Pflegefälle aus anderen Nationen aufzunehmen.“

Auch Themen wie Sexualität im Alter werden nicht ausgeblendet. Wer als Paar Tür an Tür wohnen will, dem werde das ermöglicht, sagt Kaiser. Für junge Pflegebedürftige, die zum Beispiel nach einem Reit- oder einem Motorradunfall im Rollstuhl sitzen, ist ein eigenes Haus der jungen Pflege geplant, um sie dort für ein möglichst selbst bestimmtes Leben fit zu machen.

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Die städtischen Seniorenheime sind nicht die günstigsten in der Stadt. Sie liegen laut Kaiser am oberen Ende der Skala. Das kommt nicht von ungefähr; denn die Stadt bezahlt die Beschäftigten nach Tarif. Die SHDO sei ein solide aufgestelltes Unternehmen mit sicheren Arbeitsplätzen, so der Ex-Manager. Mitarbeiter hätten sich permanent weiterentwickelt. „Wir haben mit weit über 60 Prozent mit die höchste Fachkraftquote in NRW.“

„Wir brauchen die Freundlichkeit“

Corona habe gelehrt, sagt Kaiser, „dass man Pflege nur bis zu einer gewissen Grenze digitalisieren kann. Wir brauchen den analogen Teil mit Kopf, Hand und Kompetenz. Wir brauchen die Freundlichkeit, die Sprache, das Zuhörenkönnen.“

300.000 mehr Pflegebedürftige in Deutschland werde es bis 2030 geben, aber 300.000 Pflegekräfte zu wenig. Kaiser vermisst ihre Wertschätzung durch den Gesetzgeber: „Pflegekräfte sollten nicht als Kostenfaktor angesehen werden, sondern als Problemlöser.“

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Immer nahe an der 100-prozentigen Auslastung lebe die SHDO „klassisch von Mund-zu-Mund-Propaganda“, sagt Kaiser. Worauf legen die Angehörigen wert, wenn sie ein Familienmitglied ins Heim geben? „Na ja, sie lesen auch die Tipps, die es da gibt“, weiß der Neurentner.

„Sie beobachten, wie das Personal mit den Pflegebedürftigen umgeht, sehen sich unbeobachtet den Wohnbereich an, das Zimmer, in dem Mutter oder Vater leben sollen und spüren nach, ob sie selbst sich dort wohlfühlen würden. Wichtig ist auch, ob das Pflegeheim gut für sie erreichbar ist.“

Im Ruhestand wird Martin Kaiser öfter auf sein Rennrad steigen.

Im Ruhestand wird Martin Kaiser öfter auf sein Rennrad steigen. © Oertzen

Weiter beratend tätig

Kaiser selbst verlegt seinen Familienmittelpunkt Anfang nächsten Jahres nach Berlin, plant aber eine Woche Dortmund im Monat ein; denn er wird noch für Wohnungsunternehmen aus der Region beratend tätig sein als Experte für quartiersorientierte Konzepte zum Wohnen im Alter.

Wenn er pflegebedürftig wäre, würde er in eines der städtischen Seniorenheime ziehen? „Ja, ohne jeden Vorbehalt“, versichert er. „Ein Heim muss eine Heimat sein, ein Gefühl, aber nicht der Ort, wo ich mal gelebt habe.“