Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, doch es fehlt Personal. Mit Folgen: Eine Pflegerin schildert entwürdigende Vorfälle, eine Angehörige erhebt Vorwürfe. Die Zahlen verheißen wenig Gutes.
Ulrike R. (Name geändert) hat eine große Leidenschaft für den Beruf der Altenpflege. Die 48-Jährige arbeitet schon lange in der Branche, hat Nachwuchs ausgebildet und koordinierende Funktionen übernommen. Sie erzählt gerne von den Zeiten, in denen sie mit Euphorie ihren Job gemacht hat. In denen sie dabei war, wenn neue Einrichtungen eröffnet wurden. „Wir haben jede neue Bettpfanne bejubelt. Wir dachten, wir können etwas verändern“, sagt sie.
Zwei Jahre ist es her, dass sie das zuletzt gespürt hat. Heute ist Ulrike R. ausgebrannt – und arbeitsunfähig. Sie führt das auf den Druck im Beruf zurück. Und glaubt, „dass noch viel mehr so denken und fühlen, aber sich nicht trauen, etwas zu sagen.“
Sie hat zuletzt in einem Seniorenheim des privaten Trägers CMS gearbeitet, der vor kurzem von der Alloheim-Gruppe übernommen worden ist. Was sie berichtet, ist in ähnlicher Form aber auch aus Einrichtungen anderer Betreiber zu hören.
Ulrike R. listet eine ganze Reihe von Problemen auf. Dazu gehört der hohe Kostendruck, sowohl bei der Essensverpflegung als auch beim Personal. Die Arbeitsbelastung habe sich teilweise auf 60 Stunden pro Woche summiert. Ergebnis: Vielen Krankmeldungen und Kündigungen. Folge: Alltagsbetreuer und Zeitarbeitskräfte hätten die Arbeit von gelerntem Pflegepersonal übernommen. Die mangelnde Ausbildung habe sich in der Qualität der Pflege gezeigt.
Bei manchen Pflegekräften, so erzählt Ulrike R., habe sich der Druck einen radikalen Weg nach außen gebahnt. „Ich habe mitbekommen, wie es Scherzanrufe mit verstellten Stimmen bei Bewohnern gab und dass Pflegekräfte eine Whatsapp-Gruppe mit entwürdigenden Fotos der Bewohner hatten“, sagt die Dortmunderin, ohne dass sie die Vorfälle dokumentiert hat.
Rüdiger Stahlschmidt, Sprecher der Alloheim-Gruppe, hat von solchen Vorfällen keine Kenntnis. Er verweist darauf, dass es Mitarbeitern „absolut untersagt“ sei, Fotos von Bewohnern zu machen und zu verbreiten. Gleiches gelte für Anrufe ohne dienstlichen Grund bei Bewohnern.
Auch die Kritik an den Arbeitsbedingungen weist Alloheim zurück. „Wir betrachten zufriedene und motivierte Mitarbeiter als wichtigen Garant unseres Unternehmenserfolgs und handeln danach“, so Stahlschmidt.
Phasen mit höherer Fluktuation hätten mit Zeitarbeitskräften überbrückt werden müssen. Dies sei angesichts des Fachkräftemangels aber bei allen Betreibern ähnlich. „Unsere Bewohner werden fürsorglich und mit hoher Qualität gepflegt“, sagt Rüdiger Stahlschmidt.
Die Tochter einer ehemaligen Bewohnerin ist anderer Meinung. Sie hat ihrer demenziell veränderten Mutter einen Platz in einem anderen Heim besorgt, nachdem diese in einer CMS-Einrichtung stark abgenommen hatte und in schlechter Verfassung war. Mehrere Hinweise darauf, dass ihre Mutter mehr Zuwendung und Hilfe brauche, seien nicht beachtet worden. Die Unzufriedenheit des Personals sei spürbar gewesen.
„Seitdem sie woanders ist, macht sie große Fortschritte. Sie isst wieder selbstständig und lacht auf Fotos“, berichtet die Tochter über ihre 83-jährige Mutter.
Die Qualität der Pflege in den 53 stationären Einrichtungen wird regelmäßig durch die städtische Heimaufsicht geprüft. Neun Mitarbeiter prüfen jährlich in den Kategorien Qualitätsmanagement, Personelle Ausstattung , Wohnqualität , Hauswirtschaftliche Versorgung, Gemeinschaftsleben und Alltagsgestaltung, Pflege und soziale Betreuung sowie Kundeninformationen, Beratung, Mitwirkung und Mitbestimmung.
Werden „geringfügige Mängel“ entdeckt, muss der Träger in Abstimmung mit der Heimaufsicht erklären, wie er sie beseitigen möchte. Um welche Mängel es sich genau handelt, wird nicht veröffentlicht.
Bei schwerwiegenden Mängeln gibt es eine Nachkontrolle durch die Heimaufsicht „Sollten trotz der eingeleiteten Maßnahmen durch den Träger noch Gefahrenquellen für die Bewohner festgestellt werden, sind gegebenenfalls ordnungsbehördliche Maßnahmen einzuleiten“, sagt Stadtsprecherin Anke Widow.
Im aktuellen Pflegebericht der Stadt Dortmund von 2016 seien keine „schwerwiegenden Mängel“ festgestellt worden. Anke Widow ist nur ein Fall einer Schließung bekannt: 2014 durfe nach einer bauordnungsrechtlichen Anordnung eine Wohngemeinschaft an der Hansastraße 14-16 nicht weiter betrieben werden.
Der Pflegebericht für die Jahre 2017 und 2018 erscheint in den nächsten Monaten. Bereits im bisher aktuellsten Bericht finden sich zwei Prognosen, die sich zu bestätigen scheinen:
„Der Pflegebedarf wird aufgrund der Zunahme hochaltriger Menschen sowie (jüngerer) Menschen mit psychischen Erkrankungen zunehmen. Dabei stellt die Versorgung älterer Menschen mit einer Demenzerkrankung eine besondere Herausforderung dar“, ist dort zu lesen.
Und einige Absätze später: „Bereits aktuell wird in der pflegerischen Versorgung ein Fachkräftemangel beklagt. Ohne spürbare Verbesserung der Arbeits- und Einkommensbedingungen in der Pflege bleibt die Personalsituation angespannt.“
Der Blick auf die Zahlen zeigt: Die Altenpflege in Dortmund ist noch nicht mitten im Sturm, aber sie steuert direkt darauf zu. Aktuell leiden die Betreiber noch nicht unter Fachkräftemangel.
Aber für Dortmund gibt es dieses Szenario bis zum Jahr 2030: Fast 20.000 Menschen könnten dann pflegebedürftig sein, rund 30 Prozent mehr als heute. Pflegewissenschaftler gehen von einer Personallücke in der Altenpflege von rund 5000 Fachkräften allein in Dortmund aus. Bundesweit fehlen bis zu 40.000 Pflegekräfte.
Dass es schon heute zu viel Arbeit für zu wenige Menschen gibt, zeigt sich an Geschichten wie der von Ulrike R. und vielen anderen. Die „Katastrophe“, der „Notstand“, das „Überschreiten der Belastungsgrenze“ werden in Dortmund schon seit Jahren immer wieder prophezeit.
Zusammen mit anderen Pflegern aus verschiedenen Einrichtungen in Dortmund hat Ulrike R. einen Pflegestammtisch in Dortmund gegründet. Bisher dient das in erster Linie dem gegenseitigen Austausch von Frust-Erfahrungen. Denn auch in Krankenhäusern und in der ambulanten Pflege gibt es ähnliche Klagen über schwierige Bedingungen „Langfristig wollen wir mit unseren Erfahrungen und Ideen auch an die Öffentlichkeit treten“, sagt Ulrike R.
Wie könnten Lösungen für das Problem aussehen? Immerhin: Zuletzt stieg die Zahl der Beschäftigten in der Altenpflege in der Jobstatistik. In der Ausbildung wurden neue Wege eingeschlagen, die sich langfristig auszahlen sollen. Und es gab Gehaltssteigerungen - die allein werden aus Sicht von Dortmunder Beschäftigten-Vertretern die strukturellen Probleme allein aber nicht lösen.
Seit 2010 Redakteur in Dortmund, davor im Sport- und Nachrichtengeschäft im gesamten Ruhrgebiet aktiv, Studienabschluss an der Ruhr-Universität Bochum. Ohne Ressortgrenzen immer auf der Suche nach den großen und kleinen Dingen, die Dortmund zu der Stadt machen, die sie ist.