Aus Sicht seiner Kritiker war die Sache seinerzeit klar: Christoph Tetzner ließ sich 2020 in den Rat der Stadt Unna wählen, obwohl er schon längst mehr in Griechenland lebte, wo er für die Aufwandsentschädigung von der Stadt wenig Gegenleistung erbringen konnte.
Die Staatsanwaltschaft ermittelte, ließ sogar eine Hausdurchsuchung in Unna durchführen. Im Mai 2022 entzog ihm der Rat der Stadt per Beschluss das Mandat – ein bis dahin und bis heute einmaliger Vorgang in Unna.
Tetzner schwieg zu der Zeit. Und er schwieg noch lange darüber hinaus. Selbst als die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen ihn einstellte, äußerte er sich nicht zu den Dingen, die seinerzeit sein Leben bestimmt haben. Zu dem Maulkorb, dem ihn sein Anwalt damals verpasst habe, kam offenbar auch Scham, wie er heute erkennen lässt – nicht angesichts der Ereignisse, sondern für ihre Hintergründe. Nun meldet sich Tetzner von Kreta. Er möchte reden, eine Sache zum Abschluss bringen. „Ich bin jetzt endlich frei dafür.“
Ein Maulkorb vom Anwalt und ein gesellschaftliches Tabu
Dass Tetzner schon während der Kandidatenkür für die Wahl 2020 mehr Zeit in Griechenland verbracht hat als daheim in Unna, galt schon damals als belegt. Dass die coronabedingten Reisebeschränkungen eher als Ausrede dafür herhalten mussten, warum er es nicht nach Unna zurückschafft, glaubte schon damals hauptsächlich Tetzner selbst. Die tatsächlichen Gründe für sein Fernbleiben aber kannten damals nur Vertraute. Es ging um seine Mutter, die ihre späten Jahre auf Kreta verbracht hat. Und es ging um ein Tabuthema: Alkohol.
Eine Familie geprägt von 40 Jahren Alkoholsucht
Darüber zu sprechen ist eine von zwei Sachen, die Tetzner auf dem Herzen liegen. „Meine Mutter war schwer alkoholabhängig. 40 Jahre Alkoholkonsum haben meine Familie geprägt. Drei Entgiftungen und Entziehungen sind gescheitert. Zwei davon habe ich mit ihr hier auf Kreta durchgemacht“, erzählt Christoph Tetzner. „Die Halbwertszeiten dieser Kuren waren kurz. Ein Weggang aus Kreta wäre unverantwortlich gewesen. Sie fuhr noch regelmäßig mit dem Auto, wenn ich nicht da war.“ Tetzners Mutter starb am 31. März 2023. „Ich war einfach nur froh, als es nach 40 Jahren endlich vorbei war“, bekennt er.

Tetzners Thema Nummer 2 ist das, was in Unna aus der Situation gemacht worden ist. Er habe sich nicht in den Rat wählen lassen in dem Wissen, gar nicht mehr nach Unna zurückzukehren, beteuert er. Und als die Erkenntnis dann da war, habe er auch gehandelt – zugegeben mit einer gewissen Vorlaufzeit. Im Dezember 2021 einigte sich Tetzner mit seiner Rats- und Fraktionspartnerin Petra Weber darauf, zum 30. Juni 2022 sein Mandat abzugeben, was zugleich das Ende der gemeinsamen Ratsfraktion „Linke+“ bedeutete, die ohne den Anschluss des „Überläufers“ Tetzner nie hätte gebildet werden können. Das halbe Jahr Zeitverzug rechtfertigt Tetzner damit, dass die Fraktion Räume angemietet und einen Geschäftsführer angestellt hatte. „Da waren Fristen einzuhalten“, sagt er.
Tetzner will niemandem mehr böse sein
Doch obwohl sein Ausscheiden aus dem Rat längst beschlossen war, habe man enormen Druck aufgebaut, die Sache zu beschleunigen. „Emotional habe ich damit abgeschlossen. Ich bin niemandem böse“, sagt Tetzner heute – mit einem Klang in der Stimme, die Zweifel daran aufkommen lässt, ob er sich das selbst abkauft.

Denn Tetzners Versuch, die Dinge geradezurücken, kommt nicht ohne Vorwürfe aus. Vorwürfe etwa an die Adresse seiner früheren Wählergemeinschaft „Wir für Unna“, von der er sich kurz nach der Wahl und noch vor der konstituierenden Ratssitzung getrennt hat. Sie sei es gewesen, die die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft mit ihrer Anzeige angeschoben habe.
War die Hausdurchsuchung wirklich nötig?
Vorwürfe auch an die Staatsanwaltschaft: Als Herrin des Verfahrens habe sie so handeln dürfen, wie sie gehandelt habe. Aber das Ergebnis der Ermittlungen, die letztlich zur Einstellung dieses Verfahrens führten, habe man auch einfacher haben können – und ohne Hausdurchsuchung bei dem Unnaer Ehepaar, bei dem sich Tetzner nach dem Verlust seiner bisherigen Wohnung in Unna gemeldet hatte. „Die Staatsanwältin beantragte mit dem Tatvorwurf der Wahlfälschung eine Hausdurchsuchung. Wahlfälschung aber ist ein zeitpunktbezogener Vorwurf. Melderechtlich ist die Situation zum Zeitpunkt der Wahl ausschlaggebend. Stadt und Kreis Unna haben das geprüft, das Ergebnis war deckungsgleich: Ich war wählbar. Was sollte nun eine Hausdurchsuchung im Jahr 2022 bringen? Was sollte sie an neuen Erkenntnissen bringen über eine Situation zwei Jahre zuvor? Da darf man dann auch einmal die Frage nach der Verhältnismäßigkeit stellen.“
Bei Tetzner hatte der Datenschutz eine Pause
Einen dritten Vorwurf macht Tetzner Unnas Bürgermeister Dirk Wigant. Ausgerechnet Wigant, der sonst eher streng auf die Einhaltung von Nicht-Öffentlichkeit achtet, wenn sie ihm geboten scheint, habe kein Problem damit gehabt, in der Ratssitzung am 5. Mai 2022 in aller Öffentlichkeit aus der Ermittlungsakte zu berichten, für die die Staatsanwaltschaft der Stadt Einsichtnahme gewährt hatte. „Wigant zitierte aus meiner Akte in öffentlicher Sitzung. Vertrauliche Informationen, Namen von Personen. Die datenschutzrechtliche Bewertung schien keine Rolle zu spielen.“ Und: „Da hat auch eine Vorverurteilung stattgefunden.“
Nach Unna zurückkehren will Tetzner nur noch einmal
Wenn Tetzner heute beteuert, mit niemandem im Groll zu sein, dann klingt es so, als gebe er das Ziel aus, zu dem er gelangen will. „Ich will einen Abschluss finden“, sagt er. „Sieben Jahre Ratsarbeit mit Herzblut und dann so ein Ende, das tut schon weh. Es ist schlimm, was Du einstecken musst, wenn Du Dich einfach nur in der Lokalpolitik engagieren willst.“
In Unna übrigens sei er seitdem einmal gewesen. „Das hat sich seltsam angefühlt. Die Leute sind mir ganz anders begegnet. Kalt. Feindlich. Meine alte Heimat Unna war mir fremd geworden.“

Nun will er nur noch einmal dorthin zurückkehren, um seine letzten Sachen zu holen. Ansonsten sieht Tetzner seine Zukunft auf Kreta. Der 49-Jährige lebt dort als eine Art „Multijobber“. Als ausgebildeter Kaufmann erbringt er freiberuflich Dienstleistungen für Unternehmen, er arbeitet aber auch schonmal als Erntehelfer im Olivenanbau oder in der Gastronomie. „Irgendwer braucht immer Hilfe. Ich bin hier angekommen und irgendwie hängen geblieben. Und ja, es geht mir gut.“