„Als der Russe kam“: Bei älteren Menschen brechen Traumata wieder auf
Erinnerungen
Die Älteren haben den letzten Krieg auf europäischem Boden noch miterlebt. Viele von ihnen wohnen nun in Pflegeeinrichtungen. Angesichts der Lage in der Ukraine stellt dies die Mitarbeiter vor besondere Herausforderungen.

Diese Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen im St. Bonifatius Wohn- und Pflegeheim wollen ganz sichtbar für den Frieden demonstrieren. © Hospitalverbund
Sie haben es am eigenen Leib erfahren, als es das letzte Mal Krieg auf europäischem Boden gab, waren selbst auf der Flucht, wurden beschossen, wurden gefangengenommen. Für viele ältere Menschen kommen in diesen Tagen durch die Nachrichten aus der Ukraine alte Traumata zurück. Längst Verdrängtes bahnt sich wieder seinen Weg an die Oberfläche der Gefühlswelt. Das stellt auch Pflegeeinrichtungen vor eine besondere Aufgabe. Wie gehen Leitung und Personal damit um? Man kann über die Bewohner ja keine Nachrichtensperre verhängen. Ein Weg ist reden, viel reden und da sein für die Bewohner. Wie sich das im Alltag bemerkbar macht berichtet uns Angela Hötzel.
Reden und Zuhören
Sie ist die Einrichtungsleitung der Wohn- und Pflegeheime St. Bonifatius und St. Elisabeth und befasst sich seit Beginn des Krieges intensiv mit der Frage, wie geht man mit den Nachrichten um und was macht das mit ihren Bewohnern. „Das ist eine Frage, die die Pflegeleitungen allerorts im Moment umtreibt. Sollen wir unsere Bewohner vor zu viel Input beschützen? Aber wir können und wollen die Nachrichten auch nicht abblocken“, sagt Hötzel. Für sie und ihre Mitarbeiter heißt die Lösung: „Reden und Zuhören“.

Angela Hötzel leitet das Boni-Heim. Sie und ihre Mitarbeiter führen im Moment viele Gespräche mit den Bewohnern, in denen es um den Krieg in der Ukraine geht, aber auch um das, was sie selbst im Zweiten Weltkrieg erlebt haben. © Hospitalverbund
Die Nachrichten im Fernsehen oder aus der Zeitung seien ohnehin allgegenwärtig, zudem hätten viele Bewohner mittlerweile auch Tablets oder sonstigen Zugang zum Internet und informieren sich auf eigene Faust. „Die derzeitige Lage nimmt uns alle mit, aber unter unseren Bewohnern sind eben auch viele um die 90, die den Zweiten Weltkrieg ganz bewusst mitbekommen haben“, so Hötzel. „Aber auch, wer Mitte der 1940er noch ein Kind war, hat Geschichten erlebt“, weiß Hötzel zu berichten.
Das Erlebte aus dem Zweiten Weltkrieg bricht wieder hervor
Geschichten, die sich mehr als 75 Jahre lang unter vielen, vielen emotionalen Schutzschichten verborgen haben und sich nun nicht mehr verdrängen lassen. Posttraumatische Belastungsstörung? Das war in der Deutschen Nachkriegszeit kein Begriff. Schwerst traumatisierte Soldaten kehrten nach Jahren der Gefangenschaft zurück in die Überreste ihrer ebenfalls traumatisierten Familien. Kriege sind Ereignisse, die das Leben ganzer Generationen bestimmen.
„Es gibt viele Momente, in denen wir zusammen sitzen und Gespräche führen oder einfach nur zuhören.“ Eine Geschichte, die eine Bewohnerin ihr vor Kurzem erzählt hat, kommt Angela Hötzel sofort in den Sinn. „Sie muss zu dem Zeitpunkt noch ein junges Mädchen gewesen sein. Sie hat erzählt, wie sie ihr Onkel an die Seite genommen hat und ihr sagte, sie müsse sich unter der Matratze verstecken. Da hat sie dann gelegen unter der Matratze und auf der Matratze hat dann der Onkel gelegen um sie zu beschützen. Das lässt sie bis heute nicht los.“

Sie haben Plakate und Banner gestaltet „Solidarität mit der Ukraine“ und „Stop war!“ sind die Botschaften, die sie vor dem Boni demonstrativ zeigen – und ein symbolisches Herz für den Frieden gab es auch dazu. © Hospitalverbund
Immer wieder fällt zu Beginn dieser Gespräche der Satz: „Als der Russe kam...“ Was sich dort in einer Entfernung von drei Flugstunden ereignet, macht nun wieder Angst. Ein altes Gefühl, das viele der Bewohner lange nicht gespürt haben. Und doch sind es gerade die Menschen in den Pflegeeinrichtungen, die durch die Pandemie bereits zwei schwere Jahre hinter sich haben. Jahre, in denen Besuche nicht mehr selbstverständlich möglich waren, und nun auch noch Krieg in Europa.
Am allermeisten leiden die Kinder
„Immer wieder sprechen wir über die Kinder in den Kriegsregionen, die am allermeisten leiden“, berichtet Hötzel. Die jetzt über 80-Jährigen haben es selbst erlebt, Vater, vielleicht Mutter durch den Krieg verloren. Wissen wie es ist, wenn man sich in seiner Wohnung nicht mehr sicher fühlt. Wie es ist, wenn die Luftschutzsirene in der Nacht heult und die Explosionen immer näher kommen. Wissen, wie es ist, zwischen Häusern in Trümmern durch den Staub zu irren und nach seiner Mutter zu schreien. Sie wissen es, und dass die Menschen in der Ukraine es nun wieder erleben müssen, bricht ihnen das Herz.