Kultur
Rio, der Radikalinski: Wie Unnas Reiser-Weg für Berlin zum Vorbild wird
Berlin hat bald eine weitere Gemeinsamkeit mit Unna. Die Stadt in Ostdeutschland ehrt auf einem Straßenschild den Musiker Rio Reiser. Der Streit darum hier und dort zeigt Parallelen. Ein Rückblick.
Das Abendland ist noch nicht untergegangen. Unna auch nicht. Zehn Jahre nach der Widmung des Rio-Reiser-Weges darf dies mit einer gewissen Erleichterung festgehalten werden. Denn wer zurückschaut auf die Diskussion, die der Widmung der kleinen Zufahrt an der Lindenbrauerei vorausgegangen war, muss einräumen, dass schon einmal anderes befürchtet worden war.
Die Diskussion in Berlin ruft diese Debatte in Erinnerung, zeigt sie doch deutliche Parallelen zu der damaligen in der Hellwegstadt. Am 21. August will die Bundeshauptstadt einen Rio-Reiser-Platz benennen. Sie wäre die zweite Kommune in Deutschland, die dem Musiker und Schauspieler einen Platz im Straßenverzeichnis einräumt – eben nach Unna. Und auch in Berlin gab es Widerstand dagegen. Vier Bürgerbeschwerden schoben die schon für das Frühjahr vorgesehene Umbenennung des Heinrichplatzes in Kreuzberg auf. Sogar auf Klagen hatte sich die Stadt eingestellt. Am Ende aber wird in Berlin wie auch in Unna doch nichts so heiß gegessen wie gekocht.
Die Widmung des Rio-Reiser-Weges in Unna jährt sich nun zum zehnten Mal. Längst ist diese Benennung akzeptiert. Der Stadt geschadet hat sie nicht. Im Gegenteil: Das neu aufkommende Interesse an Reiser löste auch Impulse für das kulturelle Angebot in Unna aus. Das Rio-Reiser-Festival der Lindenbrauerei und der Rio-Reiser-Songpreis sind in jener Zeit entstanden. Und ein bisschen dient der Weg zwischen dem Altbau der Brauerei und der Graffiti-Mauer „Wall of fame“ am Westfriedhof inzwischen auch dem Stadtmarketing. „Ich sehe immer wieder Leute, die sich vor dem Straßenschild fotografieren“, sagt Regina Ranft. Denn mit dem Rio-Reiser-Weg ist Unna seinerzeit bundesweit in den Schlagzeilen gewesen.
Regina Ranft war die treibende Kraft hinter der Widmung des Rio-Reiser-Weges. Ihr Vorschlag hatte eine heftige Kontroverse ausgelöst. Doch als überzeugte Kämpferin für die alternative Kultur und für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Liebe stellte sie sich der Debatte hartnäckig und am Ende erfolgreich. © Hennes
Die langjährige Geschäftsführerin des Kultur- und Kommunikationszentrums Lindenbrauerei blickt mit gemischten Gefühlen zurück auf die Zeit vor der Widmung. Dass Unna diesen Weg bekam und als erste den Musiker ehrte, macht sie froh und vielleicht auch etwas stolz. Aber die vorausgegangene Diskussion sei eine äußerst schäbige gewesen.
„Manche Argumente gegen die Namensgebung wirkten einfach nur vorgeschoben. Andere sprachen es offen aus: Da war man sich nicht zu blöd, die Frage aufzuwerfen, wie man so einen homosexuellen Hausbesetzer und Radikalinski nehmen könnte“, fasst Ranft die Worte zusammen, die sie seinerzeit vernahm.
Vor allem politisch Konservative wetterten gegen die Idee. Ratsherr Klaus Göldner, damals noch Fraktionsvorsitzender der CDU, beschrieb die Musik von Rio Reiser als den Soundtrack, zu dessen Takt er als junger Polizist auf gewalttätige Demonstranten aus der linksautonomen Szene eingeschlagen habe.
Am Anfang der Debatte standen der Bau des Lichtkunstbauwerkes „Third Breath“ von James Turrell und die Neugestaltung der umgebenden Freifläche. Der Platz um die Camera Obscura herum sollte nun einen eigenen Namen bekommen. Viele Unnaer reichten Vorschläge ein, auch Regina Ranft. „Weil ich der Auffassung war, dass die Hochkultur mit dem Lichtkunstzentrum schon ausreichend vertreten war, wollte ich die Soziokultur, für die ja unser Zentrum in der Lindenbrauerei steht, in den Vordergrund rücken“. Und damit ging der Streit los.
Platz der Kulturen – ein unbefriedigender Kompromiss
Am Ende schlug die damalige Ortsvorsteherin Ingrid Kroll den „Platz der Kulturen“ vor, und die Politik war erleichtert, sich auf den Brauch beziehen zu können, dass das Vorschlagsrecht von Ortsvorsteherinnen und -vorstehern in solchen Fragen akzeptiert wird. Die Widmung schien eine salomonische Lösung gewesen zu sein. Für Ranft war sie das nicht. Und so legte sie einen Folgevorschlag vor: Die bis dahin namenlose Zufahrt, an der das Kulturzentrum der einzige Gebäudekomplex ist, mit einem Namen zu versehen – „dagegen sollte doch niemand etwas haben können“, meinte sie. Sie irrte sich zwar, setzte sich aber doch durch: Am 17. August 2012 bekam Unna den Rio-Reiser-Weg.
Rio Reiser auf einem seiner letzten Fotos. Der Musiker starb 1996 im Alter von nur 46 Jahren – offiziell durch eine innere Blutung, für viele Anhänger aber auch als Folge eines auszehrenden Lebens.
Die Hitze der damaligen Debatte ist längst auf Normaltemperatur heruntergekühlt. Rio Reiser ist als Namenspate etabliert. Der „Hausbesetzer und Radikalinski“ erfährt ein weiter reichendes Verständnis, auch bei früheren Kritikern. Reiser, der sich wegen seiner Homosexualität unverstanden und ausgegrenzt fühlte, war letztlich getrieben von einer Hoffnung auf Besserung. Das machte ihn zur Stimme für viele, die ähnliches erleben.
Parolen für die radikale Linke
Anfangs, gerade in seiner Zeit als Kopf der Band „Ton Steine Scherben“, flossen Ideen eines politischen Umsturzes in seine Texte ein. „Keine Macht für niemand“, „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“, „Allein machen sie Dich ein“ – im Geiste der 68er-Bewegung und im Stil linker Arbeiterlyrik beschrieb Reiser das System als Ursache für die Enge, die er empfand. Doch das System ist eine Ansammlung von Menschen. Später wurden Reisers Texte persönlicher, der Klang seiner Worte und seiner Melodien stärker von Sehnsucht getrieben. Sein größter Hit – „König von Deutschland“ – war kein allzu typisches Stück des Musikers, der am 9. Januar 1950 als Ralph Christian Möbius auf die Welt kam.
Eine Inspiration auch für die Kultur in Unna
Reisers inzwischen ebenfalls verstorbener Bruder Peter Möbius war nicht die einzige Brücke zwischen Berlin und Unna. Über die private Verbindung brachte sich Reiser auch in das Kulturleben in Unna ein. Er trat selbst als Musiker auf, unterstützte aber auch Projekte wie „Hoffmanns Comic Teater“ (ohne h!) und die „Stadtoper“. Für viele in der „Szene“ rund um die Lindenbrauerei ist Reiser bis heute eine Inspirationsquelle als Künstler und als Mensch.
Ob eine Diskussion wie die damalige in Unna heute gleichermaßen heftig geführt würde, ist unklar. Vielleicht war es gerade deshalb wichtig, dass sie schon damals geführt wurde. Mag sein, dass die Anerkennung Homosexueller heute tatsächlich leichter fällt als damals. Mag sein, dass Rio Reiser posthum daran mitgewirkt hat. Regina Ranft, die als Kulturmanagerin schon vor vielen Jahren „Doppelherz“-Partys für gleichgeschlechtlich liebende veranstaltet hat, ist zugleich zuversichtlich und alarmiert. „Doch, optimistisch bin ich. Aber wir müssen aufpassen. Mit dem Wiedererstarken der Rechtspopulisten in vielen Ländern erstarkt auch die Homophobie.“ Da drohe eine Rolle rückwärts.
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