Es ist ein buchstäblich wahr gewordener Albtraum, der sich am Nachmittag des 7. Novembers vorigen Jahres ereignet. Unter Ingrid M. (Name geändert) bricht urplötzlich der Boden weg. Auf dem schmalen Weg im Urnengrabfeld auf dem Südfriedhof in Kamen öffnet sich ein tiefes Loch. Sie stürzt mehr als anderthalb Meter in den Abgrund und bleibt etwa auf Höhe der Brust stecken, wo sie sofort einen stechenden Schmerz spürt – zwei Rippenbrüche, wie sich später herausstellt.
Aus Schmerz und Schock wird schnell ein Trauma, weil sie sich aus eigener Kraft nicht befreien kann und befürchtet, noch tiefer abzurutschen: „Ich rief erst Hallo, ist da jemand? Dann wurde ich immer lauter und rief: Hilfe!“

Plötzlich bricht der Boden unter einer Seniorin weg
Ingrid M.‘s Weg führt schon seit vielen Jahren auf das kleine Urnengrabfeld unweit der Trauerhalle. Ihre Mutter starb vor 22 Jahren. Sie pflegt das Grab und beseitigt rundum wildwachsendes Grün, wenn sie dort ist. „Alle 14 Tage bin ich hier, um sie zu besuchen“, berichtet sie unserer Redaktion, als sie neben den von der Stadt Kamen aufgestellten Absperrgittern steht. Auf einem laminierten Zettel steht dort: „Grabfeld gesperrt. Aufgrund von Bodenabsenkungen im Wegebereich. Der Bürgermeister“.
Eine Bodenabsenkung allerdings war es nicht, die die Kamenerin in die Tiefe zieht. Sondern ein unvermittelter Erdfall. „Der Weg war ganz glatt als ich kam. Es gab keine Vorzeichen. Und plötzlich brach alles weg.“

20 Minuten der Angst auf dem Südfriedhof
Ingrid M. stürzte in die Tiefe und prallte mit der Brust auf die Abbruchkante. „Ich spürte, wie es knackte.“ Sie spürte den Schmerz, den zwei Rippenbrüche verursachen. Und sie verspürte Angst, noch weiter abzurutschen. Und fragte sich: „Wie komme ich hier raus?“ Indes: Aus der misslichen Lage konnte sie sich nicht selbst befreien, zu tief saß sie fest. „Bis hierher“, sagt sie und hebt die Hand bis fast unters Kinn.
Die Hilferufe verhallen auf dem großen Gelände, zu der Zeit wenig besucht, erst einmal ungehört. Etwa 20 Minuten lang, wie die Seniorin schildert. Jede Minute eine Ewigkeit. Dann kam ein Hund angelaufen. Und sein Herrchen. „Der hat mich herausgezogen. An beiden Händen.“

Rechtsstreit mit der Stadt Kamen ist Seniorin unangenehm
Die dritte und die sechste Rippe auf der rechten Seite sind gebrochen. Prellungen gibt es an der Brust und an den Händen. „Ich sah blau aus“, sagt Ingrid M. über ihren Zustand danach. Nahezu fünf Monate habe sie gebraucht, um sich auszukurieren. „Ich konnte die ganze Zeit nur auf einer Seite schlafen.“
Nach dem schockierenden Vorfall läuft sie nun Gefahr, zum zweiten Mal Opfer zu werden. Denn die Stadt Kamen, so sagt sie, weise jede Verantwortung von sich. Deswegen suchte sie sich Hilfe bei einer Anwältin. „Von der Stadt kam nichts. Keine gute Besserung, kein Blumenstrauß für eine Entschuldigung, keine Rückmeldung“, sagt sie enttäuscht.
Die Stadt Kamen äußerte sich auf Anfrage der Redaktion nicht zu dem Fall. Sie dürfe sich nicht zu dem laufenden Verfahren äußern, hieß es. Über die Sperrung des Urnenfeldes informierte die Stadt am 26. März dieses Jahres. „In einem Urnenfeld mit 53 Gräbern droht ein Weg abzusacken. Ein Friedhofsgärtner hatte hier eine ungewöhnliche Muldenbildung entdeckt“ hieß es. Der Unfall wurde nicht erwähnt.
Dass Ingrid M. nun zum ersten Mal in ihren Leben mit der Justiz zu tun hat, ist ihr unangenehm. „Jetzt bin ich so alt geworden und es geht noch vor Gericht.“
Im Moment des Schreckens an die tote Mutter gedacht
Ein halbes Jahr ist nach dem Vorfall schon vergangen. Man spürt, wie die Situation sie belastet. Manchmal frage sie sich, was passiert sei, wenn sie auf den Kopf gefallen wäre oder an einen Rollator gebunden. Manchmal, so schildert sie, habe sie Albträume.
Ähnlich schreckliche Bilder aber hat sie in der Realität gesehen, als sie in die Tiefe fiel. „Ich konnte unter den Boden sehen. Ich sah die Träger der Gräber, die dort eingelassen wurden. Und es hat ordentlich gemüffelt.“ In dem Moment des Schreckens, da habe sie an ihre tote Mutter gedacht. „Oh Mama, jetzt sehe ich dich wieder.“