Heinrich Wigger, 86, aus Unna hält ein Schwarzweißfoto aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in seinen Händen. Es zeigt einen verwundeten deutschen Soldaten, der von einem US-Sanitäter versorgt wird, unterstützt von einer deutschen Krankenschwester. Um das Frauengesicht zu vergrößern, hat Wigger eine eckige Lupe hervorgeholt. Was der Betrachter auf dem Foto eines US-Kriegsfotografen entdeckt hat, kann er selbst kaum glauben.
„Die Krankenschwester, die man sieht, könnte meine Schwester Annemarie sein. Sie war beim Roten Kreuz, und ich weiß, dass sie sich um Verwundete gekümmert hat“, sagt der Pensionär.
Wigger wusste bislang nichts von der Existenz dieses Fotos eines US-Kriegsfotografen, der die versöhnlich wirkende Geste festhielt. Erst durch den Abdruck im Hellweger Anzeiger und einen Leseraufruf aus Anlass des 80. Kriegsende-Jahrestags wurde er darauf aufmerksam. Er ist tief berührt von der Entdeckung seiner Schwester. Manchmal stockt seine sonst klare Stimme.
Die Schwester am Wuschelkopf erkannt
Das Frauengesicht ist nicht frontal, sondern seitlich zu sehen, was Wigger die Identifizierung erschwert. Aber das erkennbare Profil passt zu Abbildungen der älteren Schwester Annemarie im Familienalbum. Die Schwarzweißfotos liegen zum Beweis auf dem Wohnzimmertisch.
„An dem Wuschelkopf habe ich sie erkannt“, sagt Wigger über die Frau, die leider selbst nichts zur Aufklärung beitragen kann, weil sie 2007 starb. Aber Wigger hat das Kriegsfoto seiner jüngeren Schwester Ursula Koch gezeigt. Diese habe bestätigt: „Das ist Annemarie.“ Annemarie Wigger, später Reese, wäre am 9. April 2025 genau 100 Jahre alt geworden.

Acht Jahrzehnte sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Unna vergangen. US-Soldaten befreiten die Stadt am 11. April 1945 von der Nazi-Diktatur, also zwei Tage nach Annemarie Wiggers 20. Geburtstag. Weil es immer weniger Zeitzeugen gibt, die aus eigenem Erleben von diesem historischen Ereignis erzählen können, wird es immer unwahrscheinlicher, dass jemand Personen auf den seltenen Fotos aus dieser Epoche persönlich identifizieren kann. Doch nach dem Leseraufruf der Redaktion hat sich überraschend Heinrich Wigger aus einem Seniorendomizil gemeldet.
Der ehemalige Berufsschullehrer und Maschinenbauingenieur präsentiert auch eine Antwort auf die Frage, wo das Foto aufgenommen wurde. Ihm stachen nämlich zwei Details ins Auge: die Mauer, an der der verwundete Soldat lehnt, und die dreigliedrigen Zaunstäbe. Diese kommen ihm sehr, sehr bekannt vor. „Das ist am Tiggesgraben neben meinem Elternhaus – auf der Grenze zwischen Hausnummer 1 und 3“, sagt er.
Der Tiggesgraben damals und heute
Tatsächlich steht noch heute am Tiggesgraben 1 – dem Nachbarhaus von Wiggers Elternhaus (Nr. 3) – eine Einfriedung, die sehr große Ähnlichkeit mit der Mauer und dem Zaun auf dem Kriegsfoto aufweist. Der Putz ist ähnlich, die Dimensionen stimmen, ebenso die runden Zaunstäbe mit jeweils dreigliedrigen Stilelementen.
Für eine Aufnahme am Tiggesgraben spräche, dass der Ort zentral liegt und sehr nahe an der Morgenstraße – einer Vormarschroute der 9. US-Armee am 11. April. Dort kam es zu Gefechten, sodass wahrscheinlich Verwundete versorgt werden mussten.
Meter für Meter hat unsere Redaktion die Einfriedung am Tiggesgraben 3 in Augenschein genommen und mit dem Foto verglichen. Das Ergebnis: Zwei Bezugspunkte auf dem Foto, zwei Mauerpfeiler, finden sich vor Ort nicht. Hat sich Wigger also geirrt?
Der Zeitzeuge hat für die Ungereimtheit beim Abgleich des Fotos eine Erklärung: Es fehle heute das letzte Stück der Mauer, das auf dem Foto noch abgebildet ist. Die Pfeiler hätten so wie auf dem Foto existiert. Der schmalere gehörte zum Tiggesgraben 1, der breitere zum Tiggesgraben 3. „Das Mauerstück wurde 1975 abgerissen, um eine Einfahrt anzulegen“, erklärt Wigger. Die Einfahrt existiert noch heute und erschließt den in zweiter Reihe errichteten Bungalow Nr. 1a.

Befreier erscheinen im Keller der Herderschule
Heinrich Wigger wurde als eines von fünf Geschwistern von Karl und Hulda Wigger geboren. Auf einem Familienfoto der Fabrikantenfamilie aus der Kriegszeit sind alle abgebildet. Annemarie steht in der Mitte in einem weißen Kleid und überstrahlt alle anderen. Heinrichs größerer Bruder trägt eine Marineuniform – es ist das letzte Foto vor seinem Tod im U-Boot-Krieg.
Annemarie war Krankengymnastin und kümmerte sich um verwundete Soldaten. Sie zog nach der Heirat im Jahr 1953 nach Hamburg, wo sie weiter in einem Gesundheitsberuf arbeitete. Ihre Kinder leben heute in Süddeutschland und in Frankreich. Sie erfuhren vom Onkel, dass ihre Mutter wahrscheinlich die Frau auf dem Kriegsfoto ist.
SS-Offizier soll Wehrmachtssoldaten getötet haben
Als die Amerikaner am 11. April einmarschierten, befand sich Heinrich Wigger zusammen mit allen drei Schwestern und der Mutter im Keller der damaligen Herderschule (heute Peter-Weiss-Gesamtschule). Den Moment, als die Amerikaner im Keller erschienen, schildert er so: „Ein Schwarzer und ein Weißer kamen mit Maschinenpistolen rein und kontrollierten uns.“
Zuvor sollen noch zwei Wehrmachtssoldaten vor Ort gewesen sein, die den Zivilisten zum Missfallen eines SS-Offiziers Verpflegung zugesteckt hätten. „Meine Schwester, die auf dem Foto zu sehen ist, fand sie später erschossen an einer Böschung, die zur heutigen Jahnstraße ging, damals Grüner Weg.“ Sie habe vermutet, dass der SS-Offizier sie getötet hat.
Das Foto war jahrzehntelang unbekannt
Die Existenz des Unnaer Kriegsfotos war nach dem Krieg lange unbekannt. Helmuth Euler, Fotomeister und Buchautor in Werl, entdeckte es in den USA und verwendete es für sein im Jahr 1980 erschienenes Buch „Die Entscheidungsschlacht an Rhein und Ruhr 1945“.
Als der Hellweger Anzeiger dieses und ein weiteres Bild 1980 im Rahmen einer Buchbesprechung veröffentlichte, sorgte das für Aufsehen. Auf dem zweiten in Unna aufgenommenen Bild ist ein Kraftwagen zu sehen, der von der Wucht einer Granatenexplosion auf das Dach eines Schuppens geschleudert worden war.

Das Foto behält manche Geheimnisse
Das Original des Fotos mit der Krankenschwester und den Soldaten befindet sich im National Archive der Vereinigten Staaten. Das weiß Scott Thorpe von der 8th Armored Division Association. „Leider kann ich nicht mehr über das Foto sagen“, erklärt der Webmaster der Veteranenorganisation der 8. US-Panzerdivision. „Ich weiß, dass es von einem Fotografen des US Signal Corps in oder nahe Unna am 11. April 1945 gemacht wurde.“
Die Veteranen präsentieren das Bild im Fotoarchiv auf ihrer Internetseite, haben aber keine Informationen über abgebildete Personen. „Der offiziellen Bildbeschriftung zufolge ist es ein Sanitäter der 9. US Army von der 8th Armored Division“, so Thorpe. „Laut Beschriftung ist es ein SS-Soldat, aber wahrscheinlich ein Soldat der 116. Panzerdivision.“
Wer – außer wahrscheinlich Annemarie Wigger – noch abgebildet ist, bleibt ein ungelöstes Rätsel. Der Unnaer Stadtarchivar Frank Ahland, selbst neugierig auf die Personalien, tappt ebenfalls im Dunkeln. „Ich vermute, dass die Fotografen nur mitgegangen sind und keine genauen Notizen gemacht haben.“ Der Wehrmachtssoldat sei vermutlich gar nicht aus Unna, was die Identifizierung erschwere.
Es gab schon früher Versuche, den Ort des Fotos zu lokalisieren. Wilhelm Hochgräber, der die Geschichte von Holzwickede erforscht, ist schon vor einigen Jahren einem Zeitzeugen-Hinweis nachgegangen. Dieser führte ihn an die Hertingerstraße in Unna. Hochgräber: „Ich bin die ganze Hertingerstraße abgegangen, habe die Mauer aber nicht gefunden.“
Gelöst hat das Rätsel nun wohl Heinrich Wigger. Dafür brauchte er sozusagen nur vor die eigene Haustür zu gehen.
Ein Zeitzeugengespräch sehen Sie auf hellwegeranzeiger.de
