Als Violeta Rohozianska, ihr Mann und ihr kleiner Bruder Davyd Walperyn im März vergangenen Jahres nach Unna kamen, waren sie froh, der Hölle des Krieges entronnen zu sein. Ihre Heimatstadt Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine und nahe der russischen Grenze gelegen, war eine schöne Metropole und wurde als erstes ein Opfer der russischen Bombardements.
In Unna anzukommen war ein echter Segen für das Trio, denn die Großmutter von Violetas Mann lebt selbst bereits seit 2011 in Unna und ist Mitglied in der jüdischen Gemeinde. „Wir haben ja traditionell viele Mitglieder aus Osteuropa, denn schon unter den Aussiedlern waren viele Menschen jüdischen Glaubens“, sagt die Vorsitzende der Gemeinde Alexandra Khariakova. Das sorgte dafür, dass die haKochaw-Gemeinde von Beginn des Ukraine-Kriegs an ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt für die geflüchteten Osteuropäer wurde.
Gemeinde ist sehr kompetent
Dank der bereits vorhandenen Vernetzung in Unna und weit darüber hinaus, sowie über die vielfach vorhandenen Sprachkenntnisse war die Gemeinde ein optimaler Ansprechpartner, der sich gerne für alle Flüchtlinge offen zeigte – übrigens nicht nur für Menschen jüdischen Glaubens. „Wir sind als liberale Gemeinde traditionell sehr offen und an einem regen Austausch in vielen Projekten beteiligt“, so Khariakova. Das half auch, ganz konkret tätig zu werden: Rohozianskas Ehemann ist als ausgebildeter Gynäkologe ein gefragter Experte.
Die Anerkennung seines Studiums und seiner Facharztausbildung war kein Problem. Doch das notwendige Arbeitsvisum für Deutschland drohte an der Bürokratie zu scheitern. „Da hieß es ernsthaft, er müsse sich um das Visum in seiner Heimat bemühen“, so Rohozianska. Nachdem die Gemeinde dann viele Politiker und Institutionen informierte und um Hilfe bat, ging es auch von Deutschland aus. „Hätte mein Mann in die Ukraine gemusst, wüsste ich nicht, ob ich ihn wiedergesehen hätte“, so Rohozianska.
Wieder als Arzt tätig
Alles hat geklappt und Ehemann Borys ist inzwischen als Assistenzarzt am CKU tätig. Ihr Bruder Davyd besuchte in der Heimat das deutsche Gymnasium in Charkiw, wodurch er bereits grundlegende Sprachkenntnisse mitbrachte. Nun absolviert der Teenager parallel zwei schulische Karrieren: Zum einen besucht er am Hellweg-Berufskolleg eine Integrationsklasse, zum anderen verfolgt er online den Schulunterricht in der Ukraine weiter, wo er die elfte Klasse mit viel Erfolg absolviert. „Viele Lehrer sahen diesen Parallel-Unterricht zunächst kritisch“, sagt Sevgi Kahraman-Brust vom Kommunalen Integrationszentrum Kreis Unna.
Doch inzwischen habe sich gezeigt, dass diese Doppelbelastung viele positive Aspekte habe: Einerseits pflegten die Schüler ihre Freundschaften weiter, was so verstreut in der Welt helfe. Andererseits könne so Kontakt zu der Heimat aufrecht erhalten werden.
So gesehen überwiegen die Vorteile und zum anderen sei der ukrainische Schulbesuch eine rein freiwillige Sache. Inzwischen sind die Geschwister so gut in Unna angekommen, dass sie auch etwas zurückgeben möchten. Da lag nichts näher, als sich in der Gemeinde zu engagieren, in der sie zunächst gut aufgenommen wurden.
Vielleicht bald Lehrerin
Seine Schwester Violeta ist inzwischen als Mini-Jobberin im Projekt „Shalom Unna“ engagiert. „Für uns war es wirklich ein schwieriger Start, doch die Gemeinde kam direkt auf uns zu und half“, berichtet Rohozianska. So sei es für sie selbstverständlich auch etwas zurückgeben zu wollen.
Im Rahmen des „Shalom Unna“-Projekts hilft sie nun Geflüchteten bei den oft schwierigen Schritten, die sie selbst hinter sich bringen mussten: Ob bei der Wohnungssuche, bei Arztbesuchen, oder der Vermittlung psychologischer Betreuung, um Traumata in den Griff zu bekommen, steht sie in einer unterstützenden Lotsenfunktion für die Menschen bereit.
Als diplomierte Politikwissenschaftlerin hat Rohozianska zuletzt auch das Unterstützungsangebot eines langjährigen Kooperationspartners der Gemeinde erhalten: Dieter Schulze, Schulleiter des Werkstatt-Berufskollegs, bot an, sich um die Anerkennung ihrer Qualifikationen in Deutschland einzusetzen. „Wenn das klappt und ihr Interesse da wäre, gäbe es sicherlich auch eine Möglichkeit, darauf aufzubauen und mit weiteren Qualifikationen eine Lehrbefähigung für Politik/Gesellschaftslehre zu erreichen“, so der Schulleiter. Da würden qualifizierte Lehrkräfte gesucht.
Design auch in Unna möglich
Ihr jüngerer Bruder Davyd Walperyn absolviert aktuell ein mehrwöchiges Schülerpraktikum, bei dem er sich im Projekt „Willkommenskreis“ engagiert: Dabei fungiert der kreative Teenager überwiegend als der Medienbeauftragte des Projekts.
So kümmert er sich um den Internet-Auftritt und die Präsentationen des Projekts, hilft aber auch in der Hausaufgabenhilfe und der Bibliothek der Gemeinde. Er ist von der Arbeit ebenso begeistert, wie die Gemeinde von seinen Leistungen. Diese werden der haKochaw-Gemeinde sogar nach dem Schulprojekt erhalten bleiben, denn Davyd fühlt sich so wohl, dass er nach seinem Praktikum weiter ehrenamtlich aktiv bleiben will. Nach der Schule möchte er sich im Bereich Design etablieren, was durch die Design-Studiengänge an der Unnaer Hochschule für angewandtes Management (HAM) sogar vor Ort möglich wäre.
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