Regisseur, Tänzer und Choreograph André Decker erscheint mit bandagierter Hand zum Interview. Mit „Garten Eden“ begeistern der 48-Jährige und das Theater Narrenschiff gerade das Unnaer Publikum. Die Lindenbrauerei wurde in einen Nachtclub umgebaut. Versprochen wird ein immersives Theatererlebnis. Besucher verkleiden sich sogar im Stil der 1920er und 1930er Jahre.
Herr Decker, haben Sie im „Garten Eden“ zu wild gefeiert – oder was ist mit Ihrer Hand passiert?
Das Leben im Garten Eden ist gefährlich (lacht). Das war ein kleiner Sturz bei der zweiten Vorführung nach der Premiere. Ich habe mich unglücklich aufgefangen und mir leider das Handgelenk gebrochen.
Gute Besserung und Respekt, wenn Sie die Nummer trotzdem durchgezogen haben!
Wie man das als Darsteller gewohnt ist! Man steht sofort wieder auf und macht weiter. Es waren nur noch zweieinhalb Minuten. Spät am Abend bin ich dann rüber ins Klinikum gegangen und der Bruch wurde versorgt. Kein schöner Abschluss für unsere Premierenwoche.
Wie reagieren Sie als Regisseur, wenn ein Darsteller ausfällt – hier Sie selbst?
Glück im Unglück haben wir eine doppelte Besetzung für alle Rollen – und so konnte es weitergehen.
Sie spielen den Conferencier in einem Nachtclub – in derselben Rolle wie auch Jane Csepi, die das Publikum mit dem Lied „Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da“ verzückt. Was hat es mit dem immersiven Theatererlebnis auf sich, das Sie in den 28 Shows versprechen?
In England gibt es eine größere Tradition von Theaterstücken, wo das Publikum eine Rolle übernimmt, ohne wirklich mitspielen zu müssen. Kein Mitmach-Theater, wo das Publikum voller Schreck zurückweicht. Es geht darum, ein Teil der Aufführung zu sein. Das Publikum wird so angespielt, als wäre es auch dort, 1930, in einem Nachtclub.
Wer an der Bar einen Sekt bestellt, findet sich plötzlich zwischen Tänzerinnen und Tänzern wieder. Wie sind Sie auf die Idee für diese Zeitreise in die Künstlerszene der 1930er Jahre gekommen?
Die Idee hatte ich schon lange. Vor anderthalb Jahren war der Moment gekommen: Lasst uns das machen. Allen war sofort klar, dass das sehr kräftezehrend wird. Für das immersive Theater haben wir alle Räumlichkeiten im Narrenschiff renoviert im Art-Déco-Stil, sogar die Toiletten. Mit freundlicher Unterstützung der Stadt haben wir unsere veraltete Theatertechnik ausgetauscht. „Garten Eden“ ist auf allen Ebenen, durch die doppelte Cast, die 150 Kostüme, das Größte, was wir seit „Angels in America“ 2005 auf dem Breitenbach-Gelände gestemmt haben. Allein die Probenphase war sechs Monate statt normalerweise sechs bis acht Wochen. Das ist mein persönliches „Herr der Ringe“!

Wie viele Hände brauchen Sie, um das Projekt zu stemmen?
Alle haben mitgeholfen. Darunter neben Projektleiterin Edith Schneider-Debi auch Marc Selzer als Bühnenbildner, Svetlana Svoroba als musikalische Leitung und Sofia Schütt Velhinho mit dem Maskenbild. Ich als Regisseur und Choreograph. Allein das Bar-Personal: 16 Leute, die sich abwechseln. Dazu auf der Bühne zwölf Leute, alle doppelt besetzt, das heißt 24, manche Rollen sogar dreifach, also noch mehr. Und die Helfer, die zwischendurch einspringen, sind unzählbar.
Am Tag nach der jüngsten Vorstellung haben Sie Ihren 48. Geburtstag gefeiert. Fast ein halbes Leben sind Sie nun künstlerischer Leiter im Narrenschiff. Wie fühlt sich das an?
Das ist verrückt. Wir haben letztes Jahr unser 20-jähriges Bühnenjubiläum unter meiner künstlerischen Leitung gefeiert und das war schon ein total surrealer Moment. Die jüngsten Darstellenden im „Garten Eden“ wurden gerade geboren, als ich 2002 die künstlerische Leitung übernahm. Dass so viele Talente nachkommen und glänzen dürfen und dass auch so viele schon so lange dabei sind, darauf bin ich sehr stolz.
Wie sind Sie zum Tanz und zum Theater gekommen?
Ich habe schon in meiner Kindheit viel Theater gespielt und in der sechsten Klasse eigene Theaterstücke geschrieben, die ich mit meinen Klassenkameraden aufgeführt habe. Mit 16 habe ich angefangen, Ballett zu tanzen. Ich musste mich dann entscheiden, ob ich auf die Schauspielschule gehe oder auf die Ballettschule. Habe mich dann für Ballett entschieden und in Köln und Amsterdam meine Ausbildung gehabt. Dann beschloss ich, mein Hauptaugenmerk auf Schauspiel und Regie zu richten. Trotzdem fließt meine Liebe zum Tanz immer wieder ein. Und darum machen wir ja auch Tanz- und Musiktheater.

Wie hart arbeiten Sie dafür und wie ist das für die ehrenamtlichen Darsteller zeitlich zu schaffen?
Bei einer regulären Produktion wird auch mal vier bis fünf Tage die Woche vier bis sechs Stunden pro Tag geprobt. In dieser Produktion war es natürlich jetzt noch ein viel längerer Zeitraum. Da kann man eigentlich nicht mehr wirklich von Hobby sprechen. Wir möchten auf höchstem Niveau Theater machen, aber auch gerne autark bleiben. Manche halten uns ja für das Stadttheater, diesen Status haben wir aber nicht.
Sie schreiben fast alle Stücke selbst. Wer oder was inspiriert Sie?
Alles, auch Filme, Bücher, Theaterstücke. In den letzten zehn Jahren habe ich sehr viel Inspiration aus der Londoner Theaterszene bekommen. Dort fahre ich mehrfach im Jahr hin. Der Unterschied zwischen Entertainmenttheater und Bildungstheater wird in England nicht gemacht. Da gibt es keine Grenzen, weil natürlich in einem guten Shakespeare- oder in einem Arthur-Miller-Stück die gesamte psychologische Bandbreite des Menschen irgendwie verhandelt wird. Theater darf gern inhaltsstark und gesellschaftlich relevant sein. Ich finde es aber wichtig, dass das Publikum unterhalten wird und für zwei bis drei Stunden in eine andere Welt eintauchen und den Alltag vergessen kann.
Der Garten Eden ist unterhaltsam und sorgt für Applausstürme...
Unser Publikum weiß natürlich, was ab 1933 in Deutschland los war. Das muss man im Stück nicht alles aussprechen, weil das Publikum natürlich weiß, wo dieser Tanz auf dem Vulkan hinführt und endet. Wir sind jetzt auch in einer Zeit im Umbruch. Im Stück stellt sich meine Rolle die Frage, wie die Welt wohl in 100 Jahren aussehen wird. Das wäre 2030. Man darf durchaus besorgt sein, dass sich das in eine falsche Richtung weiterentwickelt.
Fühlen Sie die Gesellschaft heute auch auf einem Vulkan tanzen?
Ja, schon. Heutzutage wird in den Medien natürlich viel aufgebauscht. Aber im Osten hat eine Partei viele Stimmen bekommen, die nicht für Toleranz und Nächstenliebe steht. Menschen fühlen sich zu ihr hingezogen, weil sie Schuldige suchen in marginalisierten Gruppen. Fremdenhass und Homophobie wird größer. Ich bin ein sehr optimistischer Mensch, frage mich manchmal aber schon, wann Menschen diese Parallelen zu den Dreißigerjahren wirklich ziehen und sagen: „Jetzt reicht es auch mal, dagegen müssen wir unsere Stimme erheben. Nie wieder heißt nie wieder.“
Zwei Tänzerinnen im Garten Eden sinnieren darüber, ob Frauen einmal heiraten dürfen. Haben sich deren Wünsche nach Akzeptanz und Gleichberechtigung erfüllt?
Ja, ein ganzes Stück, aber wir müssen aufpassen, keinen Rückschritt zu machen. Der Weg ist noch nicht abgeschlossen, solange es nicht als was Normales angesehen wird. Es wird immer noch hervorgehoben, dass die gleichgeschlechtliche Ehe auch erlaubt ist. Und solange man immer diesen Unterschied macht, ist man nicht da angekommen, dass alle Menschen einfach gleich sind oder gleich behandelt werden.
Welche Rolle würden Sie gern einmal spielen?
Ich habe natürlich das Glück, dass ich mich selber besetzen kann (lacht). Aber natürlich würde ich niemals so weit gehen, dass ich ein Theaterstück nur dafür inszeniere. Mit meinen 48 Jahren gibt es Rollen, die ich nicht mehr spielen werde, weil ich zu alt bin. Ich habe zum Beispiel noch nie den Romeo in Romeo und Julia gespielt. Ich bin froh mit den Rollen, die ich bis jetzt verkörpern durfte, und freue mich auf alles, was noch kommt.
Was kommt noch?
Eine ganze Menge. Wir planen gerade das Jahr 2025/26, sind aber noch nicht fertig, weil der Garten Eden sehr viel Zeit in Anspruch genommen hat. Wir versuchen wieder, alle Sparten zu bedienen und vor allem die Sachen, die unser Publikum gerne wiedersehen möchte.
Auch die beliebte Open-Air-Theaterreihe im Sommer auf dem Westfriedhof?
Wir sind gerade dabei, ein Stück auszuwählen, und hoffen auf viele schöne Theaterabende bei gutem Wetter.
Tickets für „Garten Eden“
„Garten Eden – eine 30er Jahre Cabaret-Extravaganza“ läuft mit 30 Shows bis Anfang 2025 in der Lindenbrauerei in Unna (ausverkauft). Zunächst waren 28 Shows angesetzt, wegen der großen Nachfrage wurden Zusatztermine angesetzt. Der Vorverkauf für die Shows vom 16. November bis 18. Januar war am 12. Oktober (ab 15 Euro) unter theater-narrenschiff.de gestartet. An einzelnen Abenden gibt eine After-Show-Party mit verkleidetem Publikum.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien zuerst am 11. Oktober und wurde aktualisiert.