„Wunderschön und brutal zugleich“ Auswärts in Paderborn mit Rolli-Ultra Flo Wichert (23)

„Wunderschön und brutal zugleich“: Auf Auswärtsfahrt mit dem Rolli-Ultra
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Eigentlich sollte es für Florian Wichert, seinen Vater Andreas und dessen Kumpel Detlef mit dem Zug zum Schalker Auswärtsspiel nach Paderborn gehen – nun sitzen die drei im Bulli. Die Bahnstrecke war schon rausgesucht: Von Wattenscheid nach Hamm, dort umsteigen und dann weiter mit dem Regionalexpress. Doch in Hamm ist am Gleis 6 der Aufzug kaputt – und das ist für den 23 Jahre alten Florian ein nur schwer zu überwindendes Problem. Er hat SMA, umgangssprachlich als Muskelschwund bezeichnet. Es handelt sich um eine genetische Krankheit, weshalb er nie laufen konnte, sich heute vom Hals abwärts nicht mehr bewegen kann und im Rollstuhl sitzt. Trotzdem sprach er vor der Saison das Ziel aus, jedes Schalke-Spiel im Stadion sehen zu wollen.

Florian Wichert, den alle nur Flo nennen, ist seit Geburt Schalke Mitglied. Dafür sorgte Vater Andreas, der früher Allesfahrer war und selbst von seinem Opa zum Verein gebracht wurde. Sein erstes Spiel sieht Flo mit drei Jahren in der Veltins-Arena. „Er und seine Schwester Carina haben sich damals mehr fürs Pommes essen und Aufzug fahren interessiert“, erinnert sich sein Vater. Heute ist Flo der Rolli-Ultra. Er hat seit 2011 eine Rolli-Dauerkarte für die Veltins-Arena, eigene Sticker, eigene Zaunfahnen und viele Stadiongänger kennen ihn. „Ich erlebe so viele schöne Dinge mit Schalke, auch wenn es sportlich gerade scheiße läuft“, sagt Flo. Er redet leise und man muss genau zuhören, wenn er spricht.

Zur Autofahrt gezwungen

Auf seiner Instagram-Seite „rolliultra_s04“ berichtet er regelmäßig von seinen Reisen. Bei der Aufholjagd in Hamburg kam das Trio erst zur 38. Minute ins Stadion, obwohl sie zwei Stunden zuvor eigentlich überpünktlich von der Reeperbahn aufgebrochen waren. Auch hier machten ihnen die Aufzüge einen Strich durch die Rechnung. „Da stößt du einfach an deine Grenzen“, sagt Detlef. Für die Spiele in Ulm und Augsburg war die Gruppe innerhalb von vier Tagen zweimal fast 24 Stunden mit dem ICE unterwegs – und das planmäßig. Frühmorgens aus dem Haus und genauso früh wieder zurück. Dann landet auch Flos Beatmungsmaschine im Gepäck, an die er im Zug angeschlossen werden kann. Überhaupt sind ihm Touren mit dem Zug lieber als im Bulli. Dann kann er deutlich mehr bewegt werden, sein Vater muss nicht am Steuer sitzen und Flo kann auch Bier trinken. Dazu stellt Andreas ihm einen Plastikbecher in die Kopfstütze vor das Kinn und Flo trinkt durch einen Strohhalm. Das ist im Auto auf der ruckeligen Autobahn nicht drin.

Für die Heimspiele in der Veltins Arena hat der Rolli-Ultra Florian Wichert eine Rolli-Dauerkarte für sich und eine Begleitperson.
Für die Heimspiele in der Veltins Arena hat der Rolli-Ultra Florian Wichert eine Rolli-Dauerkarte für sich und eine Begleitperson. © Privat

Zu Heimspielen geht es trotzdem mit dem Auto, Flos Schwester Carina fährt. Eigentlich würde die Familie auch hier lieber den Zug nehmen. Doch an der S-Bahn-Haltestelle Veltins Arena gibt es keinen Aufzug. Auch wenn der Fahrstuhl mittelfristig kommen soll, sind es Probleme wie diese, die Fußballfans ohne Behinderung bei ihren Stadionbesuchen kaum auffallen, die Flo und vielen anderen das Erlebnis aber schwer machen. Der 23-Jährige kennt die allermeisten der Rollstuhl-Plätze in den ersten beiden Bundesligen.

Zu wenige Rolli-Plätze

Auf Schalke gibt es knapp 100 Rolli-Plätze, beim BVB mit 72 etwas weniger, in München und Frankfurt mit 324 bzw. 187 deutlich mehr. Laut Muster-Versammlungsstättenverordnung müssten Fußballstadien eigentlich 0,5 Prozent barrierefrei Plätze ausweisen. „Keines der Stadien in den deutschen Profiligen erfüllt derzeit diese Voraussetzung“, schreibt NRWs Landesbehinderten- und -patientenbeauftragte Claudia Middendorf in einem Appell an die DFL. Während der EM gab es im Dortmunder Westfalenstadion doppelt so viele Rolli-Plätze, für die Spiele des BVB wurden sie aus Sicherheitsbedenken aber wieder halbiert. Auch wenn er es unfair fände, pauschal zu sagen, dass zu wenig getan wird, sagt Flo: „Ich hoffe, dass noch mehr getan wird.“

Doch nicht nur die Zahl der Plätze ist je nach Stadion unterschiedlich, sondern auch die Qualität. In Ulm oder in der Vorsaison in Kiel habe Flo wegen Banden und Ordnern kaum etwas vom Spiel sehen können. In Münster wurde er in den Innenraum vor die Schalker Kurve gerollt, in Darmstadt hingegen war sein Platz oberhalb des Gästeblocks, sodass er wegen der großen Fahnen auch hier kaum sehen konnte. Gut gedacht, schlecht gemacht, finden Vater und Sohn. Denn die grundsätzliche Idee, dass Gästefans, egal ob im Rollstuhl oder nicht, das Spiel gemeinsam verfolgen können, finden sie angemessen. Gut sei das etwa in Augsburg gelöst worden, wo die barrierefreien Plätze direkt neben dem Gästeblock liegen. Auf Schalke hat Flo seinen Platz ganz oben im Unterrang der Gegengerade. Aus dieser erhöhten Position hat er einen guten Blick. Weil er eine Dauerkarte hat, muss er sich bei Heimspielen auch keine Gedanken um die Ticketvergabe machen. Andere Rolli-Fans berichten aber, dass es ohne Dauerkarte teilweise schwer sei, an Karten zu kommen.

Florian Wichert und sein Vater Andreas hatten nicht mit dem Sieg in Paderborn gerechnet.
Florian Wichert und sein Vater Andreas hatten nicht mit dem Sieg in Paderborn gerechnet. © Luca Füllgraf

Von Auswärtsspielen kennen auch Flo und sein Vater Andreas dieses Problem. Erst seit Corona fahren sie regelmäßig auswärts, davor bekamen sie oft gar keine Karten. Ein Auswärts-Punktesystem gibt es für Rollstuhlfahrer nicht. Die Karten kosten in der Regel zwischen 12 und 18 Euro für Rolli-Fahrer und Begleitperson und sind in vielen Stadien stark nachgefragt. Beim Spiel in Paderborn bekommt der Rolli-Ultra eines der insgesamt nur 30 Tickets, von denen lediglich drei an Schalke-Fans gingen.

„Ich freue mich, aber innerlich“

Nachdem Andreas Flo über zwei kleine Rampen in Zentimeterarbeit aus dem Bulli geholt und ihm ein Regencape übergezogen hat, geht es in Richtung Stadion. Während er seinen Sohn schiebt und sich das Schalke-Logo auf den Rollstuhl-Rädern dreht, achtet Andreas stets darauf, auf dem Pflaster zu bleiben, Bierdosen auszuweichen und nicht durchs Kies oder den Matsch zu fahren. Am Stadion öffnen sich für die beiden Tore, die sonst eher verschlossen bleiben. Durch den Außenbereich des Gästeblocks geht es schnell zu ihrem Eingang. Auch die Ticketkontrolle klappt deutlich schneller.

Auf den Plätzen gleich unten am Rasen angekommen, will Andreas sogleich die Rolli-Ultra-Zaunfahne aufhängen. Doch die Ordnerin hat etwas dagegen: „Sicherheitsgründe.“ „Schwachsinn“, befindet Andreas. „Das ist das erste Mal, dass wir unsere Fahnen nicht aufhängen dürfen.“ Es bleibt dabei. Doch es gibt noch ein weiteres Problem: einer der Ordner auf dem Platz versperrt die Sicht. Weil Florian seinen Kopf nicht drehen kann, muss er mit seinem Rollstuhl so zum Spielfeld stehen, dass er alles im Blickfeld hat. Auf Höhe der Mittellinie wäre das gar nicht möglich, da ist der Platz an der Eckfahne schon besser. Nach kurzen Diskussionen mit weiteren Rollstuhlfahrern fügt sich der Ordner auf Anweisung seiner Vorgesetzten.

Florian und Andreas Wichert in Elversberg: die nächste Auswärtstour ist noch vor Weihnachten geplant.
Florian und Andreas Wichert in Elversberg: die nächste Auswärtstour ist noch vor Weihnachten geplant. © Privat

Vor dem Spiel bei Tabellenführer Paderborn hatte Flo in schlechtes Gefühl: „Momentan tut es so weh“, sagte er im Bulli. Und: „Ich persönlich habe Angst, dass es uns in zwei oder drei Jahren nicht mehr gibt.“ Und schlecht geht es auch los. Nach einem Ballverlust in der 11. Minute sagt Flo leise „scheiße“ und wenige Sekunden später führen die Gastgeber. Ansonsten bleibt er meist ruhig, seine Augen verfolgen das Spiel, manchmal zuckt er mit der Oberlippe und immer wieder mit der rechten Augenbraue. Als Schalke das Spiel dreht, werden um ihn herum Arme in die Luft geworfen. Sein Vater drückt ihn. „Ich freue mich, aber innerlich“, sagt Flo. Ansonsten geht es aber auf den Rolli-Plätzen ähnlich zu wie überall sonst im Stadion: es wird Bier – oder wahlweise Cola – getrunken und Wurst gegessen. Es wird gejubelt, geklatscht und genörgelt. Andreas macht Fotos für Flos Instagram-Account. Die Bilder postet der Rolli-Ultra später selbst, sein Tablet kann er zu Hause mit den Augen steuern.

Die nächste Tour ist schon geplant

Mit drei, nicht gerade eingeplanten, Punkten im Gepäck geht es mit dem Bulli zurück nach Wattenscheid. Es ist nach dem Arbeitssieg in Münster und dem Weiterkommen in der ersten Pokalrunde in Aalen erst der dritte Auswärtserfolg in dieser Saison. Trotzdem war Flo bei allen Auswärtsspielen mit dabei, nur das letzte Heimspiel gegen Kaiserslautern verpasste er krank. Und die nächste Tour kurz vor Weihnachten nach Elversberg ist schon geplant.

„Diese Fahrten sind wunderschön und brutal zugleich“, sagt Flo. Körperlich sind die langen Tage für ihn sehr anstrengend, doch der Rolli-Ultra sagt: „Das ist mein Leben.“ Nie vergessen werde er, wie er 2022 beim Platzsturm in Nürnberg den Wiederaufstieg mit seinem Rollstuhl auf dem Spielfeld feierte oder 2011 den Pokalsieg in Berlin. Dass er und sein Vater einmal in Bochum mit Bierbechern beworfen wurden, sei eine krasse Ausnahme gewesen. Sonst habe er auch bei den gegnerischen Fans nur Hilfsbereitschaft erleben. Doch auf dem Rückweg zählt ohnehin erstmal nun der Sieg gegen Paderborn: „Wir haben den Tabellenersten geschlagen und endlich mal Fußball gespielt.“