Die Zahl 25, das sei ihm jetzt aufgefallen, habe im Leben seiner Tochter Alesja offenbar eine große Rolle gespielt, sagt Alexander Skvortsov. Am 25. Juli 2008 ist sie geboren, das war noch in der Ukraine. Am 25. November 2023 folgten Mutter und Tochter dem Vater nach Deutschland. Und der 25. März wird auf Alesjas Grab als Todesdatum eingraviert werden müssen. An dem Tag ist Alesja in Lünen von einem Lkw überrollt worden und noch an der Unfallstelle gestorben.
In einem Vorraum der russisch-orthodoxen Kirche in Dortmund sitzen Alexander Skvortsov und Jana Skvortsova an einem langen Holztisch. Mit am Tisch: ein Din-A4-großes Bild, aufgestellt neben den Eltern. Es zeigt die gemeinsame Tochter Alesja, sie blickt ernst in die Kamera, im Hintergrund blauer Himmel. Im Nebenraum, hohe Decken, viel Gold, einige Heiligenbilder, murmelt eine Frau Verse. Es sind Psalmen und Gebete auf Russisch. Alle 60 Minuten kommt jemand Neues, Tag und Nacht, von Montag bis Freitag. Alesjas Eltern haben sich bereit erklärt, mit uns über ihre Tochter zu sprechen.
„Ein Blick hat gereicht“
Alesja ist in der Ukraine aufgewachsen, in Kiew, besuchte dort das Gymnasium. Sie war fleißig, neugierig und talentiert, hatte gute Noten. „Die Lehrer mochten sie, weil sie viele Nachfragen gestellt hat“, sagt Jana Skvortsova. An den Krieg und die Gefahr hatte sich die Familie längst gewöhnt. Einmal habe eine Rakete dort eingeschlagen, wo Alesja nur 15 Minuten vorher langgelaufen war. Trotz allem: Eigentlich wäre die Familie in der Ukraine geblieben. Dann aber wurde Vater Alexander krank, schwer krank. Er kam nach Deutschland, um hier behandelt zu werden, im Sommer 2023 war das. Im Herbst 2023 kamen Ehefrau und Tochter nach.
Alesja hatte ein Gespür dafür, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, sagt Jana Skvortsova, „auch wenn sie eigentlich ein zurückhaltender Mensch war: Sie war einfühlsam, wusste immer, wie es anderen geht.“ Ob sie auch mal wütend war? Sie sei ja eine normale Person gewesen, und jeder werde mal wütend – „aber sie hat ihre Emotionen immer kontrolliert. Ein Blick hat gereicht, dann wusste man Bescheid.“
Unter der Woche Schule, am Wochenende die Studien in der orthodoxen Kirchengemeinde – und dennoch blieb in Kiew und auch in Lünen Zeit für Hobbys: Alesja lernte Klavier, sang im Chor, sie schwamm, liebte Pferde und Reiten und sie liebte vor allem: Bücher. In der ersten Klasse habe eine Lehrerin den Schülern ein Heftchen mitgegeben. Hier konnten alle notieren, welche Bücher sie schon gelesen haben, erinnert sich Alexander Skvortsov. Innerhalb kürzester Zeit sei das Heft voll gewesen mit all den großen und kleinen Büchern, die Alesja verschlungen hatte.
Sie habe die Bücher gelesen, sich mit den Autoren und der Bedeutung der Werke auseinandergesetzt. Als Alesja älter wurde, las sie auch Tolstoi oder Dostojewski. Später, nach dem rund einstündigen Gespräch, wird Alexander Skvortsov noch eine Whatsapp-Nachricht schicken. Ein Bild. Es zeigt ihren Schülerausweis vom Gymnasium Altlünen. Und die beiden Bücher, die sie zuletzt las. Es sind zwei Bücher von Caroline Wahl: „22 Bahnen“ und der Nachfolger „Windstärke 17“. Den ersten Teil musste sie für die Schule lesen. „Alesja bat mich, ihr den zweiten dann auch zu bestellen.“

Pläne für die Zukunft
Schon in der Ukraine hatte Alesja Deutsch gelernt, als zweite Fremdsprache. Englisch habe sie besser gekonnt, sagt Jana Skvortsova, und zunächst habe ihr Deutsch auch nicht ausgereicht, um sich mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zu unterhalten. Alesja holte schnell auf, in acht Fächern eine eins auf dem Zeugnis, in vier weiteren eine zwei. Alesja war auf dem Weg zum Abitur.
Abitur – und dann? Als sie als Kind mal eine Hundezucht besucht hätten, da wollte sie später mal mit Hunden arbeiten. Als sie sich für Pferde begeisterte, sollte ihre Zukunft im Reitsport liegen – ein ganz normales Kind halt. Diesen Winter aber gab es ernsthaftere Pläne: Alesja machte ein Praktikum bei einer Anwaltskanzlei, blieb dort, bis in den Abend hinein, so sehr gefiel ihr das. In den Ferien, sagt Alexander Skvortsov, wollte sie dort ein weiteres Praktikum machen. Vielleicht hätte sie ja mal Jura studiert? Wäre Anwältin geworden?
Alesja wird diese Fragen nicht mehr beantworten können. Ihr Leben endete am 25. März an der Kreuzung Kurt-Schumacher-Straße/Kamener Straße in Lünen. An der Unfallstelle hat sich mittlerweile ein Gedenkort entwickelt. Blumen, Teddys, persönliche Botschaften und Kerzen haben Trauernde dort aufgestellt, ein sogenanntes „Ghostbike“ - ein weiß angestrichenes Fahrrad - mahnt Vorbeifahrende zur Vorsicht. Alexander und Jana Skvortsova waren schon dort, mehrfach und auch schon direkt am Tag des Unfalls. Es gibt ein „Davor“, ein Leben mit Alesja, und ein „Danach“, sagt Alexander Skvortsov.
Wie konnte das passieren? 24 Minuten dauere die Fahrt mit dem Fahrrad, sagt Jana Skvortsova, Alesja habe sich an dem Morgen für die Bewegung an der frischen Luft entschieden. Als Autofahrer könne er selbst nicht verstehen, wie man eine Radfahrerin, die über längere Strecken auf einem geraden Abschnitt des Radweges unterwegs ist, übersehen könne, sagt Vater Alexander. Ob er auch an den Lkw-Fahrer denke? Er zögert, sucht Worte an dem Holztisch in der orthodoxen Kirche: „Unsere Tochter ist bei Gott“, sagt er. „Der Lkw-Fahrer muss weiterleben und damit zurechtkommen, was er getan hat.“ Und weiter: „Ich bin nicht wütend. Er tut mir leid.“ Skvortsov nimmt sich auch für die nächsten Worte Zeit: „Manchmal denke ich, dass ich ihn treffen möchte. Einfach, um mit ihm zusammen zu weinen.“
Die gemeinsame Trauer, sie hat Jana und Alexander durch die schwierigen Tage nach dem Tod ihrer Tochter geholfen. „Es ist eine Beruhigung“, sagt Alexander Skvortsov, „eine große Unterstützung“. Er merke, wie hilfreich es für ihn ist, wenn man sich in den Arm nimmt, über die Trauer spricht und gemeinsam weint. Rund 250 Menschen haben an der Gedenkfahrt teilgenommen. Dankbar sei er, dass hunderte Menschen sich gemeldet hätten, „Menschen, deren Namen ich nichtmal kannte“, Menschen, die Hilfe und Geld angeboten hätten. Nicht nur, aber auch in der russisch-orthodoxen Gemeinde.
In der Kirche in Dortmund, unweit des Borsigplatzes, sind inzwischen immer mehr Leute angekommen. Verse werden jetzt nicht mehr rezitiert. Stattdessen stehen ältere Frauen dort, junge Männer, eine Familie mit einem Säugling, der auf dem Boden liegt. Leiser Gesang tönt herüber, ein Priester schwenkt ein Weihrauchfass. Ein Gottesdienst fängt an, der 1. April ist in der orthodoxen Kirche Gedenktag der heiligen Maria von Ägypten. Alesjas Eltern tragen das Bild ihrer Tochter aus dem Vorraum in die Kirche. In wenigen Tagen findet in der Ukraine die Beerdigung statt.
