Kamener erinnert sich an das Ende des Zweiten Weltkrieges Klaus Goehrkes doppelte Flucht

Die doppelte Flucht Klaus Goehrkes am Ende des Zweiten Weltkrieges
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Es ist bemerkenswert, was Menschen für Details aus ihrer Kindheit in Erinnerung bleiben. Bei Klaus Goehrke aus Kamen ist es der silberne Taufbecher, der kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges aus einem Zug bei Wunstorf auf die Gleise fiel. Der 86-Jährige weiß heute noch, wie erschüttert er als Kind war. Dabei hatten er, seine beiden Brüder und ihre Mutter damals ganz andere Probleme: Sie waren auf der Flucht. Und die sollte sich wenig später noch einmal wiederholen.

Sein Vater, der aus Berlin stammte, war höherer Beamter bei der Reichspost, erzählt Goehrke im Gespräch mit der Redaktion: „Er wurde oft versetzt.“ Und so kam der Sohn 1939 in Münster zur Welt. Allzu lange sollte die Familie dort nicht bleiben. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs musste der Vater an die Front. Und die Münsteraner bekamen bald die Folgen des deutschen Angriffskrieges zu spüren: „Münster ist schon relativ früh bombardiert worden“, sagt Goehrke.

Rückkehr in die Heimat der Mutter

Deshalb entschied die Mutter im Sommer 1942 mit den drei Kindern in ihre pommersche Heimat zurückzugehen. Die Familie kam in Bärwalde unter, das heute Barwice heißt und in Polen liegt. Goehrke erinnert sich an eine zunächst ziemlich unbeschwerte Kindheit. Die allerdings endete spätestens Anfang 1945: Die Rote Armee hatte die deutschen Invasoren zurückgeschlagen, marschierte Richtung Berlin und hatte Ostpreußen erreicht. Durch Bärwalde rollten Trecks mit Flüchtlingen.

Ein Flüchtlingstreck auf der Flucht vor der Front des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa (undatiertes Archivbild aus dem Jahr 1945)
Flüchtlingstrecks wie diese sah Klaus Goehrke in Pommern. © picture alliance / dpa

Bald kam der Krieg auch nach Pommern: Fliegerangriffe waren nun Alltag, vor allem Züge, aber auch Passanten wurden beschossen. Am 27. Februar flieht Familie Goehrke. Klaus Goehrke erinnert sich an einen überstürzten Aufbruch. Es ist kalt, die Kinder ziehen mehrere Schichten Kleidung übereinander. Das Fluchtgepäck besteht aus drei Rucksäcken, zwei Bettsäcken, einer Rolle mit Decken, zwei kleinen Koffern und zwei Einkaufstaschen.

Zigaretten als Bestechungsmittel

Klaus Goehrke übernimmt eine im Wortsinne tragende Rolle: Um seinen Hals hängt ein Beutel mit Zigarettenstangen, die der nichtrauchende Vater von der Front geschickt hat. Sie sind auf der Flucht als Bestechungs- und Belohnungsmittel unentbehrlich. Ohne die nikotinhaltige Währung hätte die Mutter keine Helfer gefunden, Koffer und Taschen wären wohl zurückgeblieben, als sie am Bahnhof Bärwalde mit den Kindern einen Munitionszug besteigt.

Klaus Goehrke im Porträt. Er gestikuliert.
Auch 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert sich Klaus Goehrke noch lebhaft an die Erlebnisse auf der Flucht. © Stefan Milk

Der kommt von der Front, fährt Richtung Westen, um Nachschub zu holen und wird von den Flüchtenden gestürmt. Die Fahrt hat sich Goehrke auf schreckliche Weise eingeprägt: Alte Menschen und Babys erfrieren in der eisigen Kälte. Auch am Straßenrand sieht er tote Kinder liegen.

Zwischenstation im zerstörte Bahnhof

In der Nähe von Stettin ist erst mal Schluss, der Munitionszug wird neu beladen. Familie Goehrke kommt auf einem Lazarettzug unter. Der fährt nach Wunstorf, wo der Taufbecher auf die Gleise fällt. Schließlich gelangt Familie Goehrke nach Hannover, wo sie eine Bombennacht im Bunker verbringt. Am nächsten Morgen hilft ihnen – dank der Zigaretten – ein Soldat in einen Zug nach Halberstadt. Der Bahnhof der Stadt liegt nach Bombenangriffen in Schutt und Asche. Niemand kann den Goehrkes sagen, ob und wann ein Zug fährt.

Ein Mitarbeiter des Halberstädter Museums hängt das Bild „Der Brand von Halberstadt" des Halberstädter Malers Walter Gemm auf.
Ein Mitarbeiter des Halberstädter Museums hängt das Bild „Der Brand von Halberstadt“ des Halberstädter Malers Walter Gemm auf. Als Familie Goehrke Anfang März in Halberstadt eintrifft, ist die Stadt schon zum Teil zerstört. Am 8. April folgt der verheerendste Bombenangriff. © picture-alliance/ dpa/dpaweb

Klaus Goehrke geht es derweil immer schlechter: „Ich war todkrank“, sagt er. Der Junge hat eine Lungenentzündung. Die Mutter will nun von Halberstadt in das Nahe gelegene Dorf Gunsleben, wo eine Freundin von ihr wohnt. Mitten in der Nacht fährt dann doch ein Zug, in Oscherleben stoppt er wegen Bombenalarms, die Familie muss wieder für drei Stunden in den Keller. Am Nachmittag des 3. März schließlich erreicht sie ihr Ziel.

Das im Weltkrieg komplett zerstörte Hannover.
Auf der Flucht verbringt Familie Goehrke eine Bombennacht im Keller von Hannover. Die Stadt ist am Ende des Zweiten Weltkrieges komplett zerstört. © picture alliance / dpa

Doch der Krieg ist noch nicht zu Ende. In Gunsleben gibt es immer wieder Fliegeralarm. Die Alliierten bombardieren die nahe gelegenen Städte Dessau, Braunschweig, Hannover und Magdeburg. Klaus Goehrke erholt sich dank Wadenwickeln von seiner Krankheit, Medikamente gibt es nicht.

Flucht vor der Roten Armee

Am 17. April marschieren die Amerikaner in Gunsleben ein, für Klaus Goehrke ist der Zweite Weltkrieg zu Ende. Doch die Flucht geht bald weiter: Anfang Juni wird bekannt, dass die USA als Besatzungsmacht von der Sowjetunion abgelöst werden, erinnert sich Klaus Goehrke. Seine Mutter macht sich mit den Kindern schleunigst auf den Weg nach Gütersloh, wo eine Schwester der Mutter wohnt.

Dank der Zigaretten erklärt sich am Bahnhof in Gunsleben ein Lokführer bereit, sie auf seiner Lok mitzunehmen. Aber es gibt ein Problem: Die Mutter muss auch einen mitreisenden Reichsbahnrat überreden. Dabei ist der Tabak, den Klaus Goehrke transportiert, vermutlich äußerst hilfreich.

Klaus Goehrke lachend.
Klaus Goehrke verbrachte seine Schulzeit und Jugend in Münster. © Stefan Milk

Klaus Goehrke erinnert sich gut an die lange Fahrt ins ostwestfälischen Löhne. Zum Sitzen ist im engen Führerstand der Lok kein Platz. Er und seine Brüder müssen die ganze Zeit stehen. In Löhne nimmt ein Fuhrwerk die Familie mit nach Herford. Von dort fährt ein Güterzug nach Gütersloh. Er ist völlig überfüllt, ein Soldat hilft beim Einsteigen – als Lohn winken Zigaretten.

Bald ist Familie Goehrke wieder vereint. Der Vater kehrt im Juli 1945 aus der Kriegsgefangenschaft zurück und kommt nach Gütersloh. Er fängt wieder bei der Post an und zieht bald mit Frau und Kindern nach Münster. Dort verbringt Klaus Goehrke seine Schulzeit und Jugend. Nach dem Studium in Köln, Hamburg und Berlin kehrt er für sein Referendariat nach Münster zurück und wird später Lehrer an der Gesamtschule in Kamen.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien zuerst am 27. April 2025.