Ein Gruppe muslimischer Jungen mobbt einen Gleichaltrigen, weil er Schweinefleisch isst. Der schwerwiegende Konflikt in einer zweiten Klasse der Schopenhauer-Grundschule in Dortmund-Nette löst Reaktionen aus: Empörung, Stigmatisierungen, aber auch Rassismus-Vorwürfe.
Derweil erzählen Grundschul-Lehrkräfte anderer Schulen von ähnlichen Erfahrungen, von kulturell-religiösen Konflikten. Eine Lehrerin berichtet von Schülern, die Koranschulen besuchen und dort ganz andere Werte lernen als in der staatlichen Grundschule. Die Diskussion fällt in die Zeit einer aufgeheizten politischen Migrationsdebatte.
Wo liegen Ursachen für den Konflikt in der Schule? Was kann die Schule, was die Gesellschaft tun? Darüber haben wir mit Prof. Dr. Ahmet Toprak gesprochen. Der Erziehungswissenschaftler der Fachhochschule Dortmund ist Experte für interkulturelles Konfliktmanagement.
Herr Toprak, eigentlich sind Kinder im Grundschul-Alter doch total neugierig und offen, nicht ablehnend. Wenn man etwa mit ihnen im Urlaub ist, kennen sie keine Sprachbarrieren. Wie kommen Zweitklässler dazu, jemanden in der Form auszugrenzen?
Grundsätzlich wissen wir aber auch, dass Kinder bereits sehr früh in der Lage sind, andere Kinder auszuschließen. Wenn sie sich stark fühlen, sind sie auch schon im Grundschul-, sogar im Kindergartenalter dazu sehr gut in der Lage.
Beim Mobbing geht es in der Regel um ein Gruppenphänomen, indem mehrere Kinder ein anderes Kind ausschließen. Der von Mobbing Betroffene ist meistens alleine. Weil diese Machtausübung von der Gruppe ausgeht, bestärkt sie die anderen auch auszugrenzen. Im konkreten Fall scheint es so zu sein, dass eine kulturell-religiöse Dimension dazukommt, was viele so sprachlos macht.
Da kann es mehrere Erklärungsansätze geben. Ohne das Problem zu relativieren, muss man in dem Alter die Aussagen von Kindern nicht in seiner Gänze ernst nehmen. Vielleicht haben sie das irgendwo aufgeschnappt.
Vielleicht haben die Eltern einmal im Elternhaus gesagt, wir sind Muslime, wir dürfen kein Schweinefleisch essen. Kinder verarbeiten diese Information weiter. Und einige interpretieren sie so, dass sie dann andere Kinder mobben. Man kann Eltern grundsätzlich nicht unterstellen, dass sie bewusst die Kinder beim Mobben unterstützen.

Eine Lehrerin erzählt, dass Kinder aus streng gläubigen muslimischen Familien sehr klar zwischen haram und helal (arabisch: halal) unterscheiden, also was Allah verbietet und was er erlaubt. Sie hat den Eindruck, dass ihre Schüler das in Koranschulen lernen, die sie besuchen.
Schön, dass Sie das ansprechen. Es ist möglich, dass die Kinder so eine Aussage an unterschiedlichen Orten aufschnappen. Das können beispielsweise Elternhäuser sein, aber es können auch Koranschulen sein. Koranschulen sind vielen Menschen, übrigens auch Muslimen selbst, ein Dorn im Auge.
Einige, nicht alle, sind problematisch. Oft arbeiten dort nicht immer ausgebildete Theologen und predigen einen Alltagsislam, der mit der theologischen Auslegung der Religion wenig zu tun hat. Es sind Erfahrungswerte bestimmter Personen ohne theologische Ausbildung, die dann problematische Aussagen treffen können. Das war immer schon ein Problem.
Was bedeutet das für die Kinder, die in dem Alter noch nicht differenzieren können?
Nicht alle muslimischen Familien sind gleich. In konservativen muslimischen Familien wird Gehorsamkeit gepredigt, eines der zentralen Elemente in der Erziehung. Das Hinterfragen der religiösen Einstellungen wird in vielen konservativen Familien verpönt, komplett abgelehnt oder sogar bestraft.
Wenn in einem Moscheeverein falsche Tatsachen gepredigt werden, dürfen Kinder aus konservativen Milieus keine Fragen stellen, nicht widersprechen oder die Aussagen infrage stellen. Das ist dann das Gegenteil von dem, was wir Kindern in unseren Bildungseinrichtungen beibringen: kritisch zu sein. Zuhause haben die Kinder gelernt, dass sie dem Lehrer in den Koranschulen nicht zu widersprechen haben. Das trägt dazu bei, dass sie befolgen, was in den Moscheevereinen als verbindlich angesehen wird.

Wer kann diese Konflikte lösen?
In erster Linie müssen die religiösen Geistlichen gut geschult werden. Dafür gibt es an deutschen Universitäten Islamzentren, die Imame ausbilden. Die Rolle der Vereine, wo man nicht weiß, wie die Imame ausgebildet werden, wäre eingeschränkt.
Viele Imame aus der Türkei sind zwar theologisch gut ausgebildet, aber sie haben dieselbe Einstellung, dass man den Imamen nicht widerspricht. Die Ausbildung der Imame in Deutschland ist langfristig die einzige Lösung. Aber sie dauert.
Schlichtungsprogramme
Schulen mit den Konflikten vor Ort hilft diese langfristige Lösung erst einmal nicht. Sie erleben die kulturellen oder auch sozialen Konflikte zwischen den unterschiedlichen Kulturen jeden Tag.
Es gibt aber auch kurzfristigere Lösungen. Mittlerweile gibt es in jeder Schule Schulsozialarbeit mit gut ausgebildeten Sozialpädagogen. Sie können in solch einem Konfliktfall intervenieren. Lehrkräfte können nicht alles leisten. Sie sind dafür gar nicht ausgebildet und haben andere Aufgaben.
Die Schulsozialarbeiter können zum Beispiel mit Konflikt-Schlichtungsprogrammen Eltern, Jugendliche und Kinder an einen Tisch bringen. Dafür sind sie in der Regel ausgebildet. Es ist wirksam, wenn man die Probleme nicht verharmlost oder schönredet, sondern gemeinsam auf Augenhöhe miteinander bespricht und die Konflikte auflöst. Religiöse Toleranz heißt ja, dass man nicht nur den Islam toleriert, sondern alle anderen Religionen auch.
Im Mobbing-Fall an der Grundschule besteht der Eindruck, dass er nur ein Beispiel, die Spitze des Eisbergs ist. Womöglich liegt der Konflikt viel tiefer?
Mobbing ist kein einmaliges Verhalten und dauert einen längeren Zeitraum. Deshalb muss man schon früh bei Kleinigkeiten eingreifen. Wenn man länger auf bestimmte Verhaltensweisen nicht reagiert, ist die Gefahr groß, dass sich das Ganze verschärft und dann die Lösung umso schwieriger ist.
Viele Lehrkräfte sind auf Unterrichtsvermittlungen geschult, nicht auf diese Situationen. Deshalb empfehlen wir, bereits scheinbar kleinere Verhaltensstörungen pädagogisch groß zu machen. Ich kann mir gut vorstellen, dass im konkreten Fall die Probleme tiefer liegen, weil man vermutlich lange nicht reagiert hat.

Der Vorstand einer islamischen Gemeinde sagt, er wolle über das Thema nicht reden, weil es kontraproduktiv und politisch gesteuert ist. Was halten Sie davon?
Wenn man Missstände in migrantischen Milieus anspricht, ist man ausländer- oder migrantenfeindlich. Ich verstehe, dass Menschen Angst haben, dass man der AfD recht gibt. Erst recht aber müsste man mögliche Missstände aus der Mitte der Gesellschaft, der Politik und auch vom linken Flügel ansprechen. Das Thema darf nicht den Rechten überlassen werden. Nicht darüber zu reden und Selbstzensur zu üben, ist aber auch keine Lösung.
Was kann man gegen Sprachlosigkeit und den wachsenden Graben in unserer Gesellschaft tun?
Problematisch sind Pauschalisierungen auf beiden Seiten. Es sind weder alle Migranten schlecht noch sind alle Deutsche ausländerfeindlich. Natürlich gibt es in migrantischen Milieus bestimmte Probleme, wie sie auch in der deutschen Gesellschaft existiert. Aber es ist nicht automatisch rassistisch oder migrantenfeindlich, im gesellschaftlichen Kontext offen darüber zu reden. Es ist nicht alles schwarz oder weiß: Auf Augenhöhe in Dialog gehen, ist sicherlich ein gewinnbringender Ansatz.
Zur Person
Ahmet Toprak (54) ist seit 2007 Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Dortmund im Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften. Einer seiner Schwerpunkte ist die interkulturelle Konfliktforschung.
Toprak kam als Zehnjähriger zu seinen Eltern aus Zentralanatolien nach Deutschland. Nach dem Hauptschulabschluss ging er zurück in die Türkei, macht Abitur und studierte zunächst Anglistik. 1991 kam er zurück nach Deutschland, wechselte später ins Studienfach Pädagogik. Parallel zu seiner Arbeit als Anti-Gewalt-Trainer für mehrfach straffällige Jugendliche mit Migrationshintergrund promovierte er.
Ahmet Toprak ist Autor zahlreicher Fachbücher in seinem Forschungsschwerpunkt.