Dortmunder SPD streitet über Koalitionsvertrag „Unser Land steht an einem Kipppunkt“

Dortmunder SPD streitet über Koalitionsvertrag: „Land steht an Kipppunkt“
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Die Spitzen von Union und SPD haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. In den Verhandlungen haben die Parteien in den vergangenen Wochen Hürden aus dem Weg geräumt. Doch längst sind nicht alle übersprungen. Innerhalb der SPD läuft seit Dienstag (15.4.) eine Mitgliederbefragung.

Eine Mehrheit der Mitglieder muss dem Koalitionsvertrag zustimmen, damit die Sozialdemokraten Teil der kommenden Bundesregierung werden. Widerspruch gibt es bundesweit vor allem von der Parteijugend, den Jungsozialisten (kurz: Jusos) - auch in Dortmund. Auch die heimischen Jusos empfehlen, der Koalitionsvereinbarung nicht zuzustimmen.

„Rote Linien überschritten“

„Ich werde mit Nein stimmen“, sagt der Dortmunder Juso-Vorsitzende Kiran Gurung. Für ihn ist die SPD mit dieser Vereinbarung auf dem falschen Kurs. „Es gibt immer Kompromisse, aber in der Vergangenheit wurden anders als jetzt keine roten Linien überschritten.“

Der 19-Jährige findet, die SPD hat sich bei den Themen Migration sowie Arbeit und Soziales zu weit von ihren eigenen Werten wegbewegt und der Union zu viele Zugeständnisse gemacht. Konkret benennt er Zurückweisungen an der Grenze, die sowohl faktisch als auch rechtlich nicht umsetzbar seien. So sieht es auch seine Stellvertreterin an der Juso-Spitze, „Beim Thema Migration wird eigentlich alles gestrichen, was geht. Zurückweisungen an der Grenze sind verfassungswidrig“, sagt Michelle Gnatzy, die den Koalitionsvertrag ebenfalls ablehnt.

Sie verstehe nicht, warum man auf Druck der Union solche Nebelkerzen in den Vertrag schreibe. „Wir müssen schauen, dass wir den Diskurs wieder von rechts nach links verschieben. Ich sehe nicht, wo mit diesem Vertrag der Anspruch erfüllt ist, die AfD zu halbieren.“

Michelle Gnatzy.
Auch die stellvertretende Juso-Vorsitzende Michelle Gnatzy sieht die Koalitionsvereinbarung kritisch. © Weimer (A)

Kritisch sehen die Jusos etwa auch die geplanten Sanktionen im Sozialbezug. „Man kann als SPD nicht mal einen Mindestlohn von 15 Euro garantieren, obwohl man damit plakatiert hat“, kritisiert Gurung. „Auf mich wirkt das wie regieren um jeden Preis.“

Es gebe allerdings auch gute Punkte, etwa die Bestrebungen, Frauen besser vor Gewalt zu schützen, die Sicherung des Rentenniveaus bis 2031 oder dass Strategien für Fachkräfte-Zuzug oder die Stahl- und Automobilindustrie entwickelt werden sollen, stellt Michelle Gnatzy fest. Sie glaubt, dass die SPD das bestmögliche herausgeholt hat.

Trotzdem lehnen die Jusos das Gesamtergebnis ab. „Die Koalition schafft es nicht, ein Programm vorzulegen, dass verhindert, dass die AfD in vier Jahren stärkste Kraft wird“, fürchtet Gurung. Man habe Positionen übernommen, die so im AfD-Programm stehen würden und legitimiere sie damit. „Ich sehe nicht, wie man so die Wende bringt. Das stimmt mich alles sehr pessimistisch. Unser Land steht an einem Kipppunkt“, sagt der 19-Jährige.

Online-Forum für Mitglieder

Dass es viele kritische Stimmen zum Koalitionsvertrag gibt, bestätigt auch der Vorsitzende des SPD-Unterbezirks Jens Peick. Am Mittwochabend konnten Dortmunder SPD-Mitglieder in einem Onlineforum mit Jens Peick und Sabine Poschmann als Bundestagsabgeordnete diskutieren. „Es gab ein breites Meinungsbild“, berichtet Peick. Trotzdem ist er überzeugt, dass eine Mehrheit der Dortmunder SPD-Mitglieder dem Koalitionsvertrag zustimmen wird - „wenn auch nicht voller Begeisterung“.

Viele machten sich Sorgen angesichts der Alternativen - eine Regierungsbeteiligung der AfD oder Neuwahlen. „Es geht auch um die Frage, Verantwortung zu übernehmen“, sagt Peick.

Zu den kritischen Punkten gehören für den Unterbezirksvorsitzenden vor allem Themen aus dem Bereich soziale Gerechtigkeit, dass es nicht gelungen sei, Verbesserungen bei der Einkommenssteuer und eine stärkere Beteiligung von Reichen etwa über eine Vermögenssteuer oder die Erbschaftssteuer zu erreichen. Es gebe aber auch viel Anerkennung dafür, dass die SPD trotz des mageren Wahlergebnisses „viel rausgeholt“ habe.

Blumen gab es am Wahlabend für die wiedergewählten SPD-Bundestagsabgeordneten Sabine Poschmann und Jens Peick von OB Thomas Westphal.
Blumen gab es am Wahlabend für die wiedergewählten SPD-Bundestagsabgeordneten Sabine Poschmann und Jens Peick von OB Thomas Westphal. Jetzt werben alle drei um Zustimmung zum Koalitionsvertrag für eine neue Bundesregierung. © Stephan Schuetze (A)

So sieht es auch Sabine Poschmann. „Viele unserer Forderungen sind eingeflossen, aber an einigen Stellen mussten wir auch Kompromisse machen. Vor allem die Investitionen in wichtige Zukunftsbereiche wie Infrastruktur, Kitas, Schulen, Wohnungsbau und Klimaschutz machen mir Hoffnung, dass wir Deutschland in den nächsten Jahren ein gutes Stück voranbringen können“, schrieb sie bei Instagram.

Westphal wirbt für Zustimmung

Ebenfalls bei Instagram warb Oberbürgermeister Thomas Westphal für die Zustimmung zum Koalitionsvertrag. „Wir brauchen jetzt eine Koalition der ehrlichen Arbeit. Damit wir unsere Schulen, Kitas, Wohnungen und Straßen erneuern und bauen können. Es muss spürbar besser werden“, schrieb er auf der Plattform.

Wie er der FAZ sagte, rechne er fest damit, dass die Mehrheit der SPD-Mitglieder dem Vertrag zustimmen werde. Aber auch der OB sieht keine große Euphorie. „Wir müssen in diese Koalition gehen, und wir müssen es gut machen. Auf keinen Fall darf es bei Schwarz-Rot zu einem Abnutzungskampf kommen wie bei der Ampel, sonst wird die AfD noch stärker“, erklärter Westphal gegenüber der FAZ.

Doch der Koalitionsvertrag sorgt für Gräben in der SPD. „Es gibt auch Mitglieder, die ankündigen, mit Nein zu stimmen und dann austreten“, sagt Kiran Gurung. Er sei aber der Meinung, „dass man in der SPD trotzdem Einfluss nehmen kann. Wenn man unzufrieden mit der Parteispitze ist, dann muss man dafür kämpfen, dass sich etwas verändert.“ Bis zum 29. April können die Mitglieder abstimmen.