Galgenhumor ist wohl die richtige Umschreibung für das, was Horst Tuxhorn gerade gepackt hat: „Da liegen meine letzten fünf Lebenstage“, sagt der 83-Jährige und zeigt auf einen kleinen Stift auf seinem Esstisch. „Victoza“ steht auf dem Pen - das ist der Markenname eines Medikaments, das den Blutzuckerspiegel senkt. Für Diabetiker ist das lebenswichtig. Bei zu hohen Blutzuckerwerten drohen Erkrankte, ins Koma zu fallen.
Für Horst Tuxhorn reicht die Dosis noch nicht einmal mehr eine Woche. Und er weiß nicht, wo er Nachschub herbekommen sollen. Weil es bei Victoza derzeit Lieferschwierigkeiten gibt, hat sein Diabetologe ein Alternativmedikament verschrieben: Ozempic. Aber auch das ist nicht verfügbar. „Das haben wir nicht da, das ist auch nicht lieferbar“, habe die Apothekerin bei ihnen im Kreuzviertel mitgeteilt.
„Ja, soll ich jetzt schon mal einen Liegeplatz im Friedhof buchen? Die können mich doch nicht hier einfach verrecken lassen“, macht Horst Tuxhorn seinem Zorn Luft.
Medikamente werden zur Bekämpfung von Übergewicht eingesetzt
Horst Tuxhorn ist mit seinem Ärger nicht alleine. Wie er bangen gerade acht Millionen Diabetiker um ihre Medikamenten-Versorgung. Denn seit mehr als einem Jahr kommt es zu Versorgungsengpässen und Lieferausfällen - zuletzt vor allem bei Victoza und Ozempic, die beide vom dänischen Hersteller Novo Nordisk hergestellt werden.
Die Ursache des Engpasses hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte schon im April 2023 so beschrieben: „Seit Beginn 2022 wird sowohl behördenseitig als auch in der praktischen Versorgung der Patientinnen und Patienten ein stetiger Anstieg des Verbrauchs beobachtet, der unter anderem durch den Off Label Einsatz dieser Arzneimittel in der Behandlung der Adipositas hervorgerufen wird.“
Soll heißen: Diese beiden Medikamente werden massenhaft statt zur Therapie von Zuckerkranken zur Bekämpfung von Übergewicht (Adipositas) eingesetzt - obwohl sie dafür gar nicht vorgesehen sind (sogenannter Off Label Einsatz).
Promis wie Elon Musk regen Nachfrage an
Oder - noch einfacher formuliert: Weil US-Promis wie Elon Musk über Social Media mittteilen, dass sie durch Ozempic 15 Prozent ihres Gewichts verloren haben, rennen Übergewichtige Ärzten und Apothekern die Bude ein. Hersteller Novo Nordisk hatte schon im März darauf hingewiesen, dass die Lieferengpässe das ganze Jahr andauern könnten und dass jede andere Anwendung von Ozempic „inklusive Gewichtsregulierung, die Verfügbarkeit für Menschen mit Typ 2 Diabetes gefährden kann“.
Für Horst Tuxhorn ist das ein schwerer Schlag und schwer nachzuvollziehen: „Dass diese Misere jetzt plötzlich auftaucht, das kann mir doch keiner erzählen. Und dass wir Betroffenen jetzt so auf dem Schlauch stehen, das kann doch wohl in unserem angeblich so gutem Gesundheitssystem nicht sein. Da muss ich schon mal fragen: Was läuft da schief in unserem Gesundheitssystem? Da ist doch der Wurm drin!“
In der Tat wurde Victoza erstmals 2009 zugelassen und die Zielgruppe immer mehr erweitert, Ozempic ist bereits seit 2018 auf dem Markt. Die Einführung der neuen Wirkstoffe und der Pens war für Diabetiker wie Horst Tuxhorn eine große Erleichterung. Der Stuckateur aus dem Althoffblock, der einst den Präsidentenpalast im Kreml mit Putz aus Gelsenkirchener Fertigung verzierte, musste früher mehrmals täglich Insulin in die Bauchdecke spritzen. „Am Ende war mein Bauch ganz wund“, sagte er. Da waren die Pens, die man nicht so oft und auch am Arm oder Oberschenkel setzen konnte, ein Riesen-Fortschritt.
Er will Versorgungssicherheit
Und auch die Gewichtszunahme wurde gestoppt: „Ich wurde immer dicker, obwohl ich kaum was gegessen habe. Zum Schluss wog ich 97 Kilo bei 1,80 Meter Körpergröße.“ Dank der neuen Mittel erschlankte er jetzt wieder auf die vorher vorhandenen 68 Kilo. Diese Wirkung machen die Pens so beliebt in einer übergewichtigen Zielgruppe - ohne Diabetes.
Was Horst Tuxhorn umtreibt ist die Suche nach Verantwortlichen. Ist es der Gesundheitsminister? Hat es einen Erlass gegeben, dass Diabetiker wie er keine Medikamente mehr bekommen? „Die Zuständigen wissen doch, wie viele Diabetiker es in Deutschland gibt. Dann müssten sie doch auch wissen: Wir brauchen so viele Medikamente im Jahr. Da muss man doch in der Lage sein Versorgungssicherheit herzustellen!“
„Noch nicht absehbar“
Wir haben beim Hersteller, bei Ärzte- und Apotheken-Vertretern nachgefragt, wie sie die derzeitige Lage beurteilen.
Die Versorgung hängt vor allem von den Produktionskapazitäten von Novo Nordisk ab: „Unsere globalen Produktionsanlagen sind jetzt rund um die Uhr in Betrieb. Außerdem hat Novo Nordisk seine Investitionen in neue Produktionskapazitäten 2023 gegenüber 2022 mehr als verdoppelt. Innerhalb von zwei Jahren werden in Summe mehr als 4,6 Mrd. Euro investiert, um die gestiegene Nachfrage decken zu können“, sagt Sprecherin Marit Zuber auf Nachfrage unserer Redaktion.
Allerdings seien die Herstellungsprozesse komplex, und es wird einige Zeit dauern, bis diese Maßnahmen greifen. „Obwohl die Versorgung sich kontinuierlich verbessert, ist noch nicht absehbar, ab wann wir die Nachfrage wieder vollständig bedienen können. Wir sind bemüht, längerfristige Lieferengpässe zu vermeiden“, sagt sie.
„Bitter für Betroffene“
Klaus-Dieter Warz, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Diabetes-Föderation hat darauf hingewiesen, dass „Betroffene nicht von ,der Hand in den Mund leben‘ sollten, sondern sich verantwortungsbewusst und frühzeitig eine neue Verordnung vom Arzt verschreiben lassen“. Das ist auch die Empfehlung von Volker Heiliger, Sprecher der Ärztekammer Westfalen-Lippe, der betont, dass Ärzte früh darauf hinweisen sollten, dass diese Medikamente frühzeitig geordert werden sollen.
Allerdings: „Derzeit besteht ein Engpass, aktuell können nicht alle Medikamente, die verlangt werden, abgegeben werden. Das ist natürlich bitter für Betroffene“, sagt Sebastian Sokolowski, Sprecher der Apothekerkammer Westfalen-Lippe. „Alle Apotheker sind angehalten, diese Medikamente nur im Zusammenhang mit einer Diabetes-Diagnose abzugeben. Das ist ein dringlicher Appell!“
„Das ist die einzige Alternative“
„Es herrscht ein absoluter Notstand“, sagt Horst Tuxhorn. Er weiß nicht, wie er jetzt an das für ihn lebenswichtige Medikament kommen soll. Marit Zuber vom Hersteller Novo Nordisk rät: „Patienten sollten Kontakt zu ihrer behandelnden Ärztin bzw. ihrem behandelnden Arzt aufnehmen, um eventuell notwendige Anpassungen ihrer Therapie zur Überbrückung einer möglichen Therapielücke abzustimmen.“
Das ist auch die Empfehlung von Sebastian Sokolowski von der Apothekerkammer: „Patienten sollten den Arzt bitten, die Medikation umzustellen. Das ist die einzige Alternative.“ Allerdings sei so eine Therapie-Umstellung nicht einfach - gerade bei Älteren. Und gegen den Versorgungsengpass „hilft nur Verordnungsdisziplin, Abgabedisziplin und eine ausreichende Versorgung durch den Hersteller“, nimmt Sebastian Sokolowski Ärzte, Apotheker und Pharma-Industrie in die Pflicht.
Horst Tuxhorn will noch mal zum Hörer greifen und seinen Arzt anrufen, bevor er sich die letzte Dosis Victoza setzt. Vielleicht gibt es ja Alternativen - Spritzen in die Bauchdecke oder einen Ruheplatz auf dem Friedhof sind keine für den Inneneinrichter im Ruhestand.
Update: Am Freitag (1.9.) hat Horst Tuxhorn nach einem Hinweis seines Physiotherapeuten eine Apotheke gefunden, die Victoza vorrätig hatte. „Die nächsten 100 Tage überlebe ich!“ jubelt er.
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