Ein Pflegeplatz kostet bald 6000 Euro Betreiber eines großen Dortmunder Heims schlägt Alarm

 Heim-Betreiber schlägt Alarm: Ein Pflegplatz kostet bald 6000 Euro
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Die Kosten für stationäre Pflege haben in NRW Höchststände erreicht - und sie steigen immer weiter. Damit wächst auch die Belastung der Bewohner und ihrer Angehörigen. Denn sie müssen einen Eigenanteil zahlen, der im Schnitt in NRW laut dem Verband der Ersatzkassen seit Juli 2023 im ersten Jahr bei durchschnittlich 2801 Euro im Monat liegt - das sind 253 Euro mehr als im Bundesdurchschnitt und 261 Euro mehr als noch vergangenes Jahr bezahlt werden musste.

Die monatlichen Kosten für einen Pflegeplatz sind je Heim unterschiedlich - sie liegen für einen Betreiber im Ruhrgebiet beispielsweise bei 3500 Euro für Pflegegrad 2 bis zu etwa 5000 Euro für Pflegegrad 3. Die Differenz zwischen Eigenanteil und Gesamtkosten zahlt die Pflegekasse.

Was läuft schief in der Pflegeversicherung? Wie teuer wird es noch? Darüber haben wir mit Bodo de Vries, stellvertretender Vorsitzender des Vorstands und der Geschäftsführung des Evangelischen Johanneswerks gesprochen. Das Johanneswerk betreibt unter anderem das Theodor-Fliedner-Heim am Stadion und ein Altenheim auf Schwerin in Castrop-Rauxel. Der 58-Jährige ist auch Kurator im Kuratorium Deutsche Altershilfe und Vorsitzender des Netzwerks „Soziales neu gestalten“.

Die Zahl der Pflegebedürftigen in NRW hat sich seit 2013 auf 1,2 Millionen Menschen mehr als verdoppelt. Was hat dieser demografische Wandel für Folgen?

Demografie ist nur ein Zahlenspiel. Die spannende Frage ist: Welche Auswirkungen hat die Demografie auf die Beziehungsgestaltung, auf die Hilfe und die Pflege? Das ist das, worum es eigentlich geht. Wir nehmen die Demografie wahr, aber nicht den gesellschaftlichen Wandel.

Was heiß das konkret?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der alle immer älter werden. Das heißt zum Beispiel: Menschen, die einen Ehepartner haben, werden gemeinsam älter. Das ist in der Bundesrepublik Deutschland ein völlig neues Phänomen – es betrifft erstmals die Geburtsjahrgänge nach 1930. In diesen Partnerschaften gibt es eine Solidarität wie nie zuvor. Gleichzeitig führt das dazu, dass in unseren Einrichtungen - wir haben über 3500 stationäre Plätze - der Anteil der Bewohner, die einen lebenden Partner haben, inzwischen fast bei 30 Prozent liegt.

Dieser Partner muss sich dann darum kümmern, den Heimplatz zu finanzieren. Und die Kosten, die er tragen muss, steigen immer weiter. Derzeit beträgt in NRW der monatliche Eigenanteil, den Angehörige zahlen müssen, im Schnitt 2801 Euro im Monat.

Es ist falsch, nur auf einen zu gucken. Weil: Es verarmen zwei. Denn der, der von Zuhause weggeht, nimmt etwa 3000 Euro des Haushaltseinkommens mit. Das ist besonders traurig, weil der Ehepartner, der Zuhause bleibt und mitverarmt, die Ursache dafür ist, dass es erst sehr spät zu einer stationären Versorgung gekommen ist. Das war die Person, die dem Pflegedienst die Tür aufgemacht, Telefonate entgegengenommen und bei pflegerischen Abläufen unterstützt hat. Das ist ein funktionierendes Sozialgefüge.

Bodo de Vries.
Bodo de Vries. © Johanneswerk

Dieses Sozialgefüge hat die größer werdende Gruppe der Singles nicht. Was hat das für Folgen?

Es gibt einen steigenden Anteil von Singles auch in unseren Einrichtungen - weil wir in einer singularisierten Gesellschaft leben, weil Menschen sich zu einem Lebensstil entscheiden, der sich nicht in Zweisamkeit realisiert. Singles bleiben im Schnitt nicht wie Verheiratete 19 Monate in einer Einrichtung, sondern über 40 Monate. Das heißt: Singles kommen früher in die Einrichtung und bleiben länger. Sie brauchen die Solidarität dieser Gesellschaft in einem ganz anderen Maße – auch in Euro.

Daher noch mal zur Frage der Finanzierung: Die Eigenanteile steigen und liegen in NRW weit über dem Bundesschnitt. Was muss passieren, um das zu ändern?

Wir müssen die Webfehler, die wir in der Pflegeversicherung haben, endlich angehen und nicht von einer Legislatur auf die andere verschieben. Aus meiner Perspektive als Pflegefachmann haben wir die schönste Koalitionsvereinbarung ever...

... denn die Ampel hatte angekündigt, die Eigenanteile in der Pflege zu begrenzen und planbar zu machen.

Ja, was sich diese Koalition zu dem Thema vorgenommen hat, ist beeindruckend. Nur: Es passiert auch so wenig wie je zuvor. Das ist die grundsätzliche Tragik.

Woran liegt es, dass zu wenig passiert?

Es gibt einen wesentlichen Webfehler: Wir haben 1996 bei Entstehung der Pflegeversicherung gesagt, der pflegebedingte Aufwand muss für den Durchschnittsrentner vollständig von der Pflegeversicherung geleistet werden. Das war die Zielvorgabe, deshalb haben wir den ganzen Hokuspokus überhaupt nur gemacht. Das Ergebnis ist: Zurzeit zahlt jeder allein für den pflegebedingten Aufwand monatlich 1183 Euro dazu.

Zum Verständnis: Der „pflegebedingte Aufwand“ ist der größte unter den Posten, die sich in NRW zu einem Eigenanteil in Höhe von 2801 Euro im Monat summieren. Weitere Posten sind die Kosten für Unterkunft und Verpflegung, eine Ausbildungsumlage und Investitionskosten für das Heim. Und diese Summe steigt seit Jahren.

Das zeigt: Die Pflegeversicherung wird im Verhältnis zu den Gesamtkosten zunehmend bedeutungslos. Sie leistet nicht mehr das, wofür Sie sie begründet wurde. Sie sollte das Risiko Pflegebedürftigkeit für den Einzelnen berechenbar machen. Das ist es derzeit nicht.

Ich bin da zunächst auch dem damaligen Sozialminister Norbert Blüm auf den Leim gegangen. Der hat immer gesagt, die Pflegeversicherung ist keine Vollkaskoversicherung, sondern eine Teilkaskoversicherung. Aber bei meiner Teilkaskoversicherung bezahle ich, wenn die Windschutzscheibe kaputt geht, 300 Euro. Den ganzen Rest bezahlt die Versicherung. Bei der Pflegeversicherung ist es aber genau umgekehrt: Sie bezahlt einen feststehenden Betrag und ich bezahle den ganzen Rest, der immer teurer wird.

Wie lässt sich das ändern?

Wir brauchen gesetzliche Regelungen, die dazu führen, dass es einen feststehenden Betrag gibt, den jeder dazutun muss. Darauf kann sich der Einzelne vorbereiten. Jeder weiß, ob er das Geld hat oder nicht. Alternativ kann er sich dagegen versichern. Und wir müssen sicherstellen, dass Bewohner diesen Betrag nicht permanent bezahlen müssen. Das heißt, wer länger als eine bestimmte Zeit bedürftig ist, der muss dann aus der Nummer rauskommen, damit es weiterhin kalkulierbar bleibt.

Wie soll das funktionieren?

Die Idee ist, dass der Bewohner beispielsweise nach dem dritten Jahr den Pflegebedarf vollständig über die Pflegeversicherung bekommt. Das nennt sich Sockel-Spitze-Tausch. Das heißt, die Spitze, die sich permanent verändert, soll von der Pflegeversicherung übernommen werden. Die SPD und die Grünen wollten das umsetzen in dieser Legislaturperiode. Und jetzt hören wir davon nichts.

Dieser Sockel – ist das ein fester Prozentsatz des pflegebedingten Aufwands?

Nein. Denn wenn Sie einen Prozentsatz festlegen, ist das Lebensrisiko Pflege für den einzelnen nicht kalkulierbar. Jens Spahn hatte als Gesundheitsminister 600 Euro als Sockel gefordert. Ich sage jetzt mal: 700 Euro pro Monat - aber nicht länger als zwei Jahre. Alles, was über 700 Euro mal 24 Monate hinausgeht, übernimmt die Pflegeversicherung. Damit steht der Gesamt-Betrag fest. Das ist kalkulierbar. Entweder kann ich mir das leisten oder ich versichere mich dagegen.

Nach der Reform von Jens Spahn sinken die Zuzahlungen zu den Pflegekosten bereits jetzt, je länger ich im Heim bin. Reicht das nicht?

Nein. Denn das passiert in einer Qualität, die wirklich an allen Zielen vorbeigeht. Je nach Aufenthaltsdauer in der stationären Einrichtung hilft Ihnen jetzt in der Tat die Pflegeversicherung. Sie kriegen künftig sogar 75% des pflegebedingten Aufwandes nach dem dritten Jahr wieder. Das heißt, Sie bezahlen nicht - wie in den ersten zwölf Monaten - 1183, sondern nur noch 373 Euro. Aber nur, wenn Sie es zu 36 Monaten geschafft haben. Es ist aber so, dass 87 Prozent der Männer nach 36 Monaten verstorben sind. Bei beiden Geschlechtern sind es 77 Prozent.

Wie hoch ist der Anteil derer, die den Eigenanteil nicht mehr selbst zahlen können und deshalb der Staat mit Sozialhilfe einspringen muss?

Ungefähr ein Drittel der Bewohner bekommt Sozialhilfe, also ergänzende SGB-12-Mittel. Allerdings liegt im dritten Jahr der Anteil derer, die Sozialhilfe beziehen, meist bei 90 Prozent.

Wie wird sich die Höhe des Eigenanteils weiterentwickeln?

Der Eigenanteil wird immer höher werden. Ich prognostiziere für einige Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen - wir sind teurer als die meisten anderen Bundesländer – dass die Betreiber an Gesamtkosten kommen, die bei 6000 Euro pro Monat liegen.

Derzeit liegen diese Gesamtkosten in den meisten Einrichtungen um die 5000 Euro. Was genau treibt die Kosten?

Zum Beispiel die Kosten für den Bau. Der Betrag, der hierfür zur Umlage kommt, ist höher als vor zehn Jahren – also steigen die sogenannten Investitionskosten. Neben diesen inflationsbedingten Kostensteigerungen beim Bauen und bei den sogenannten Hotelkosten – also Verpflegung und Unterbringung – sind ab Mitte 2023 auch die Entgeltkosten gestiegen. Und zwar im Schnitt um ungefähr 100.000 Euro Brutto-Arbeitgeberkosten je Einrichtung – das sind zwei Vollzeitstellen, die uns bis zu diesem Zeitpunkt quasi das Gesundheitsministerium finanziert hat. Das alles treibt den Eigenanteil weiter in die Höhe.

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