Die beiden bisher besten Teams der EM 2024 treffen am Freitag im Viertelfinale aufeinander. Die Qualität der Spieler aus Spanien und Deutschland unterscheidet sich nicht groß. Wichtig wird sein, die eigene Taktik durchzusetzen. Auf diese drei Punkte kommt es dabei an:
1. Dominanz: Wer bekommt den Ball?
121 Prozent Ballbesitz kämen heraus, wenn man die jeweiligen Spielanteile von Deutschland und Spanien in ihren bisherigen EM-Partien addiert. Die beiden stärksten Mannschaften der Euro charakterisiert ihre Dominanz mit der Kugel am Fuß. Logisch, dass die Rechnung beim direkten Aufeinandertreffen nicht aufgeht. Die erste entscheidende Frage lautet daher: Wer bekommt den Ball?
Um eine Hoheit auf dem Platz herzustellen, setzt Julian Nagelsmann beim DFB-Team auf eine enge Staffelung im Zentrum mit drei Zehnern im 4-2-3-1 und eine hoch stehende Abwehrreihe. Deutschlands Kette scheibt oft bis über die Mittellinie vor, in Toni Kroos dirigiert ein Meister seines Fachs den Spielaufbau aus der linken Tiefe heraus. Diese Systematik schafft viele Anspielstationen in Ballnähe und ermöglicht es, bei Ballverlusten unmittelbar in die Rückeroberung überzugehen. Phasenweise funktionierten Angriffspressing und Gegenpressing sehr gut. Fast die Hälfte der deutschen Attacken führten im Turnierverlauf durch die Mitte.

Spanien schiebt im 4-3-3 vor allem die Außenverteidiger hoch, um mit den Flügelspielern und den Achtern flexibel kombinierende Dreiecke in der Nähe des gegnerischen Sechzehners zu bilden. Aufgrund ihrer enormen technischen Qualität und taktisch klugen Positionierung können die Spanier mühelos den Ball durch die eigenen Reihen laufen lassen. Aus diesem Fluss heraus starten sie ihre kreativen und variantenreichen Spielzüge, oft explosiv und überfallartig. Durch das konsequente Durchschieben aller Feldspieler in Richtung Ball gelingt es, nach Ballverlusten ins Gegenpressing zu kommen und den Gegner in der eigenen Hälfte einzuschnüren. Zwei Drittel der spanischen Angriffe laufen über ihre bärenstarken Flügelspieler Nico Williams und Lamine Yamal, deren Hintermänner und Nebenleute durch Pässe und Laufrouten freie Räume für die Außen aufreißen. Eine Besonderheit: Beide spielen auf der „falschen“ Seite, also der Rechtsfuß links und der Linksfuß rechts. Obacht: Nicht nur aus dem Ballbesitz heraus, sondern auch mit ihren Kontern sind die Spanier eine echte Bedrohung.
Es wird nicht nur für Taktikexperten spannen zu sehen sein, welche Mannschaft ihren Spielstil mehr durchdrücken kann – und wer in den anderen Phasen besser adaptieren kann.
2. Diversität: Wer kann sich besser anpassen?
Auf beide Mannschaften warten im EM-Viertelfinale neue Herausforderungen: Tief verteidigen mussten weder Spanien noch Deutschland über einen längeren Zeitraum. Das dürfte sich am Freitagabend ändern. Ein Kernpunkt der Vorbereitungen lautet daher: Wer kann sich besser anpassen?
Situativ hat Bundestrainer Julian Nagelsmann bereits auf Gegnerdruck reagiert, als er gegen die Schweiz und Dänemark im Spiel gegen den Ball einen Mittelmann (Robert Andrich, Emre Can) in die Abwehrkette zurückgezogen hat. Dadurch bildete sich ein kompakter Block, aus dem heraus die DFB-Elf wenig Chancen zugelassen und brandgefährliche Konter gestartet hat. Gelangen gegen Schottland oder Ungarn noch Tore durch Kombinationen und aktives Verteidigen im letzten Spieldrittel, führten gegen Dänemark zwei Blitzangriffe mit weiten Steilpässen zu den Treffern. Aber so richtig leiden musste die deutsche Abwehr bisher nicht. Um mehr Tempo in die Tiefe zu etablieren, spielte gegen Dänemark Leroy Sané statt Florian Wirtz. Die Rolle rückwärts ist nicht auszuschließen, weil Wirtz ballsicherer ist und weniger Angriffsfläche für Pressing bietet.
Ähnlich wie die deutsche Elf entblößt auch Spanien durch das mutige Vorrücken der Defensivspieler immer wieder Räume in deren Rücken. Die DFB-Elf sollte fußballerisch findig genug sein, nach Balleroberungen und in Umschaltsituationen gezielt diese Zonen anzulaufen und anzuspielen, idealerweise mit Steil- und Vertikalpässen oder durch Klatsch-Aktionen von Mittelstürmer Kai Havertz.
Oder aber die Mannschaft von Trainer Luis de la Fuente macht Abstriche bei ihrem Pressing – davon ist trotz des vorhandenen Respekts auf beiden Seiten allerdings nicht auszugehen. Eher wird sich im Mittelfeld Fabian Ruiz häufiger mal an die Seite von Sechser Rodri fallenlassen, um das Zentrum besser schließen zu können. Interessant: Nach vier Partien gegen Fünferketten steht Deutschland bei den Spaniern erstmals eine (offensiv denkende) Viererkette gegenüber.
3. Durchsetzungsvermögen: Wer gewinnt die Schlüsselduelle?
Vom fußballerischen Niveau liegen Deutschland und Spanien bisher fast gleichauf. Die Iberer wirken eleganter und eingespielter, die DFB-Elf etwas flexibler. Letztlich kommt es auf die direkten Duelle auf dem Feld an. Während es die Schweizer und die Dänen fast mit Manndeckung für DFB-Spielmacher Toni Kroos versuchten, ist das im EM-Viertelfinale nicht zu erwarten. Allerdings kennen die Spanier Kroos bestens und werden einen Plan entwickeln, wie man seine Wirkung eindämmen kann. Gegen Dänemark wich Deutschlands Taktgeber im 3-1-Aufbau bereits häufiger in die mittlere Position aus, um mehr Freiräume zu haben für seine öffnenden Pässe. Kann er wie gewohnt das Geschehen mit seinen Auslösehandlungen diktieren, wird es schwerer, die Angriffe zu stoppen.
Deutschland muss wiederum auf das Überladen der Flügel bei den Spaniern reagieren. Selbst in Gleichzahl sind Williams, Yamal oder Pedri nicht immer zu bremsen für Joshua Kimmich, Maximilian Mittelstädt/David Raum und Robert Andrich. Hier muss höchste Aufmerksamkeit und taktische Disziplin her mit vielen Hilfen. Sonst könnten Lücken gnadenlos bestraft werden – wobei die Effizienz vor dem Tor nicht zu Spaniens Stärken zählt.

Die Schlüsselduelle auf den Flügeln lassen sich auch umkehren, indem man Williams und Yamal zu Defensivaufgaben nötigt, der beide nicht mit voller Hingabe nachgehen. Hier mit Spielintelligenz und Rhythmuswechseln diese Momente auszunutzen, muss ein Teil des Matchplans sein. Denselben Gedanken allerdings wird sich neben Nagelsmann auch de la Fuente machen. Wer Spanien viel grüne Wiese bietet, ist geliefert. Und auch da gilt die Umkehrung für Deutschland.