„Es war Zufall, dass ich im Juli 1950 zur Zeche kam“, erinnert sich Hermann Lange. Da war er 18 Jahre alt. Heute ist er 92, wird im Sommer 93. Aber das Alter ist ihm nicht anzumerken. Seine Augen blitzen, sein Verstand ist scharf, seine Äußerungen sind klar und wohl durchdacht.
Als der IGBCE-Ortsvereinsvorsitzende Volker Wagner ihn bei der Maikundgebung in Bergkamen von der Bühne aus bittet, sich doch einmal vom Platz zu erheben und sich allen in der Halle zu zeigen, geht das flink. Doch das ist nicht der Grund für den donnernden Applaus, den er erntet – und die späteren Standing Ovation. Denn Hermann Lange ist im wahrsten Sinne des Wortes ein IGBCE-Zeitzeuge, wie es auf dem Schild vor seinem Platz steht. Seit 73 Jahren ist er Gewerkschaftsmitglied, seither ist er am 1. Mai stets in Oberaden.
„Das erste Mal habe ich am 1. Mai 1951 an der Maikundgebung teilgenommen, erinnert sich der Senior. „Ich wohne seit 35 Jahren in Münster, aber ich komme am 1. Mai immer wieder her und bin stolz und froh, wenn ich sehe, was hier auf die Beine gestellt wird – trotz all der Schwierigkeiten, die es inzwischen gibt.“
Das war einst ganz anders: „Bei meiner ersten Kundgebung waren das 100, vielleicht 120 Teilnehmer“, erinnert sich Lange. Damals traf man sich am Werkstor von Haus Aden - und zog durch den Wald zum Römerberg, wo heute die Martin-Luther-Kirche steht. „Der Redner war der Bürgermeister“, erinnert sich Lange. Natürlich der von Oberaden, denn die Stadt Bergkamen gab es da noch nicht. Oberaden war noch eine eigenständige Gemeinde.

Im Römerbergwald wurde ein Stopp eingelegt. „Da hat dann der Betriebsratsvorsitzende der Zeche eine Ansprache gehalten“, schildert Hermann Lange. Und danach kamen dann die Frauen und Kinder dazu. Er selbst hatte da noch keine eigene Familie, aber er genoss das gemütliche Beisammensein. „Damals gab es kein Gegeneinander wie heute“, zieht er einen Vergleich. „Damals waren die Leute noch mit Leib und Seele dabei.“
„Als Geschenk für unsere Teilnahme haben wir alle eine Flasche Bier bekommen“, erinnert sich Lange und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Schließlich war so etwas damals noch eine große Geste. Und weil es auch so etwas wie Bierwagen noch nicht gab, waren Zinkbadewannen mit Eis und Wasser gefüllt wurden, um die Flaschen zu kühlen. „Im Laufe des Tages wurde dann immer kaltes Wasser aus dem Keller der Schule nebenan geholt“, weiß Lange. „Für mich als Jugendlichen war das etwas ganz Besonderes.“
Im nächsten oder übernächsten Jahr, „das war 1952 oder 1953“, erinnert sich Lange, habe es dann auf dem alten Sportplatz an der Preinstraße das erste Zelt gegeben. „Der Rahmen wurde dann immer größer“, sagt er. Später wurde das Zelt dann auf dem Bruktererplatz aufgebaut, der heute bebaut ist, dann zog die Veranstaltung in die Römerbergsporthalle - auch, weil man so das Zelt sparen konnte.
„Es liegen Welten zwischen 1950 und 1980“, sagt Hermann Lange, und auch diese Jahren wären kein Vergleich zu heute. „Der Zusammenhalt war besser“, sagt Hermann Lange mit leichter Wehmut in der Stimme. „Als ich zur Zeche kam, war Oberaden gefühlt ein Dorf mit sieben Häusern - und alle, die hierherkamen, waren Fremde. Da war der Zusammenhalt einfach besser. Da gab es keinen Neid untereinander wie heute.“

Mit Blick auf die vielen Maikundgebungen in all den Jahren ist Hermann Lange „viel in Erinnerung“ geblieben. „Es gab die ganz großen, und die richtig guten, und die richtig schlechten“, sagt er mit Schalk in der Stimme. Welche er wie einordnet, das verrät er nicht. Aber seine liebste Maikundgebung war die mit Norbert Blüm.
„Dass es Bernhard Grüner damals geschafft, einen CDU-Mann in eine Gegend mit 67/68-Prozent SPD-Wählern zu holen, das war enorm“, zieht Lange einen imaginären Hut vor dem inzwischen verstorbenen Initiator und geistigem Vater der Maikundgebungen in Oberaden. Allerdings, so plaudert Lange aus dem Nähkästchen: „Die Sicherheitsauflagen waren damals so hoch, dass wir mit Norbert Blüm in einer Gaststätte essen gehen mussten.“
Und was hielt der treuste Besucher der Maikundgebung von der aktuellen Veranstaltung? „Ich hoffe, dass die gesagten Worte wirken. Ich hoffe, dass alle zusammenfinden und das eigene Ego wieder hinten anstellen. Es kann nicht jeder recht haben - oder bekommen. Es muss auch jeder zurückstecken können.“

